Dokumentarfilm | Deutschland 2006 | 92 Minuten

Regie: Jana Kalms

Die Filmemacher beobachteten mit zwei Beta-Kameras Sitzungen einer Potsdamer Selbsthilfegruppe, bei denen sich Menschen, die unter Psychosen leiden, ihre Angehörigen und medizinisches Fachpersonal untereinander austauschen. Aus dem umfangreichen Material wurde ein dokumentarischer Film montiert, zu deren öffentlicher Vorführung die Seminarteilnehmer ihre Erlaubnis erteilten. Er konzentriert sich auf sechs Protagonisten, die von ihrem Leben und Leiden berichten, und dokumentiert die Reaktionen der anderen Teilnehmer. Dabei werden nicht nur Gemütszustände transparent gemacht; auch vermittelt sich die nahezu greifbare emotionale Stimmung im Raum, wobei der Film trotz der Schwere des Themas nichts Pathologisches ausstrahlt. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
credofilm/rbb
Regie
Jana Kalms · Torsten Striegnitz
Kamera
Jutta Tränkle · Volker Langhoff · Axel Schneppat · Frank Schunicht · Marc Heinnecke
Musik
Console Produktion · Susann Schimk · Jörg Trendmann
Schnitt
Torsten Striegnitz
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Psychiatrie-Verlag (Doppel-DVD, inkl. Lehrfilm "Psychosen verstehen" (142 Min.)
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Diskussion
Seit zehn Jahren begegnen sich an der Fachhochschule Potsdam im Raum 4070 die verschiedensten Menschen in einem Seminar der besonderen Art. Die Teilnehmer legen keine Prüfungen ab, erwerben keine Scheine, studieren nicht. Aber sie reden miteinander, diskutieren, streiten, tauschen sich aus: Menschen mit Psychosen, deren Angehörige und medizinische Fachkräfte. Dieses außergewöhnliche Projekt dokumentieren die Regisseure Jana Kalms und Torsten Striegnitz in ihrem Film „Raum 4070“. Das Gebäude, in dem sich der Raum 4070 befindet, sieht von außen ein bisschen aus wie ein Raumschiff. Wie ein Fremdkörper ragt es mit seiner hässlichen DDR-Architektur aus der idyllischen Umgebung. Ein Defekt in der Harmonie. Ein passenderer Ort hätte sich für ein Psychoseseminar kaum finden lassen. Zum ersten Mal hatte Striegnitz von dem von Professor Peter Stolz geleiteten Seminar gehört, als ihn seine Kollegin Jana Kalms darauf ansprach. Ihr Bruder war vor sechs Jahren an einer Psychose erkrankt, seit dem Wintersemester 2001/2002 nahm sie an den zweimal im Monat stattfindenden Treffen teil. Zwei Jahre später stieß auch Striegnitz hinzu. Auch ihm ist aus seinem persönlichen Umfeld das Phänomen „Psychose“ nicht fremd. „Wenn man sich umhört“, sagt er, „kennt fast jeder in seinem Verwandtschafts- oder Freundeskreis jemanden, der schon einmal mit dem Thema konfrontiert wurde.“ Entweder, weil er selbst betroffen ist oder ein Freund, ein Bekannter. Den Raum 4070 erfasst Striegnitz im Film als einen Schwellenraum, als eine Begegnungsstätte von Menschen, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit Psychosen auseinandersetzen. Lässt sich die daraus entstehende Energie, lässt sich dieses zwischenmenschliche Spannungsfeld in einem Film einfangen? Striegnitz und Kalms glaubten daran. Es gelang ihnen, die Seminarteilnehmer von ihrer Idee zu überzeugen. Schließlich stellten sie zwei Betacam-Kameras auf, montierten Mikrofone auf Tonangeln und sammelten so über 60 Stunden Filmmaterial. Vierzig bis achtzig Menschen in einem Raum, die reden. Langweilig? Um sich nicht im Ungefähren zu verlieren, haben sich die Regisseure auf fünf, sechs Hauptprotagonisten beschränkt. Sie erzählen von ihren persönlichen Erfahrungen, Erlebnissen, inneren Kämpfen. Und sie debattieren über Sinn und Unsinn von Psychopharmaka (Striegnitz legt Wert darauf, dass der Film nicht von der Pharmaindustrie gesponsert wurde) und darüber, ob man unter Psychosen automatisch „leidet“, ob sie nicht auch Glücksgefühle auslösen können. Langweilig wird das nicht, vielmehr zum Spiegelbild puren, intensiven Lebens. Die Kameras inszenieren nicht bloß „sprechende Köpfe“. Gezielt fangen sie die Reaktionen derjenigen ein, die zuhören. Zustimmung spiegelt sich darin, aber bisweilen auch Ablehnung, Unverständnis. Etwas emotional so Unmittelbares, fast Greifbares füllt den Raum, das sich wohl nicht inszenieren lässt. Selten ist es einem Film, sei er fiktiv oder dokumentarisch, gelungen, fremde Menschen so nahe zu bringen. Fast meint man mittendrin zu sitzen im Raum und mitzuleiden, als sich abzeichnet, dass einer der Teilnehmer abermals auf eine Psychose zusteuert. Dennoch erschlägt einen die Schwere des Themas nicht, strahlt der Film nichts Pathologisches aus. Die Menschen im Raum 4070 lachen auch, scherzen, freuen sich. Regelmäßig gönnt der Film dem Zuschauer eine Pause, nimmt ihn mit vor die Tür, lässt ihn mit nachdenklich entspannender Musik ein wenig Abstand gewinnen, ehe dann ein neues Kapitel im Miniaturuniversum der Fachhochschule Potsdam aufgeschlagen wird. „In jeder Psychose steckt auch ein Stück Normalität und in jeder Normalität ein wenig Psychose“, wehrt sich Striegnitz dagegen, Psychotiker abzustempeln, gedanklich auszusortieren. Psychosen können sich ganz unterschiedlich äußern, von Depressionen über Angstzustände, Selbstüberschätzung bis hin zu rauschhafter Ekstase. Gemeinsam ist ihnen das Moment des Kontrollverlustes. Auch für Kalms und Striegnitz war es nicht immer einfach die Kontrolle zu bewahren. Weinend saßen sie im Schnittraum, nachdem sie von der Selbsttötung eines Seminarteilnehmers erfahren hatten. Es ist auch seine Geschichte, die „Raum 4070“ erzählt. Fast schonungslos intensiv und doch würdevoll. „Die schönste Filmvorführung von allen“ war für Striegnitz bislang die im Psychoseseminar selbst. Es war die erste und entscheidende. Nach über zwei Monaten im Schnittraum und fünf Monaten Postproduktion wurde den Seminarteilnehmern der fertige Film vorgeführt. Jeder und jede Einzelne hätte ein Veto einlegen können und die beiden Filmemacher damit zurück an den Schneidetisch schicken. Keiner tat es.
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