Heimatklänge

Musikfilm | Schweiz/Deutschland 2007 | 84 Minuten

Regie: Stefan Schwietert

Dokumentarfilm über drei Schweizer Stimmkünstler, die die alpine Vokalkunst als musikalische Ausdrucksform für sich (wieder-)entdeckt haben, sie von ihrem folkloristischen Ballast befreien und in Verbindung mit anderen Musikformen originäre Klangwelten schaffen. Dabei verdichtet sich der auditiv wie visuell grandiose Film zu einem leidenschaftlichen Gesamtausdruck. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
HEIMATKLÄNGE
Produktionsland
Schweiz/Deutschland
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
maximage/zero one film/SF DRS/BR
Regie
Stefan Schwietert
Buch
Stefan Schwietert
Kamera
Pio Corradi
Musik
Knut Jensen
Schnitt
Stephan Krumbiegel · Calle Overweg
Länge
84 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Musikfilm | Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Ventura (16:9, 1.78:1, DD5.1 schweizerdt.)
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Diskussion
Erst ganz am Ende, während des Nachspanns, wo andere Filme gerne ihre „Outtakes“, nicht verwendete Szenen oder Filmpannen, präsentieren, sieht man Stefan Schwieterts drei Protagonisten zum ersten und einzigen Mal zusammen im Bild. Da stehen sie beieinander, inmitten der wuchtigen alpenländischen Bergkulisse, und singen tatsächlich gemeinsam: Erika Stucky, Noldi Alder und Christian Zehnder. Diese drei virtuosen Stimmakrobaten, die eine jeweils ganz eigene Form der kreativen Auseinandersetzung mit der alpenländischen Vokalkunst pflegen, hatten zuvor jeder für sich ihre jeweils persönliche, höchst individuelle Sicht- und Gesangsweisen ausführlich dargelegt: in Erzählungen und Erläuterungen, in Gesangsproben, Aufführungen und Performances, in Reise- oder Found-Footage-Impressionen, teilweise aus der Kindheit und Jugend. Die drei Schweizer Stimmkünstler dokumentierten dabei ihre ganz eigenen, faszinierenden Wege der musikalischen Weiterentwicklung traditioneller Musikformen, des textlosen Singens auf Lautsilben, wie es (auch) das Jodeln auszeichnet, das dramatische Spiel des Wechselns zwischen Brust- und Falsettstimme, wobei diese vokalen Techniken untrennbar in den ethnischen Traditionen ihrer helvetischen Heimat wurzeln. So stehen die drei eigentlich den gesamten Film über miteinander in geistiger und musikalischer Kommunikation, in einvernehmlicher „Trisprache“: Sie rufen sich quasi über die Filmbilder hinweg zu, so, wie einst die alpenländischen Hirten und Sammler, Waldarbeiter und Köhler mit Jodlern, Almschreien und Juchzern die weiten Distanzen untereinander akustisch überbrückten und über alle gebirgigen und unwegsamen Abgründe hinweg miteinander kommunizierten. Das ist ein ständiges Horchen und Reagieren auf die vielfältigen Möglichkeiten des Klangs, des Echos, des Widerhalls; ein Spiel mit Raum und Zeit, das auch Schwietert mit seinem Film betreibt, wenn er die menschliche Stimme als autonomen Protagonisten ins Zentrum einer permanenten Identitätssuche rückt: Wer zum Teufel bin ich? Woher komme ich? Aus was schöpfe ich? Ebenfalls fast am Ende des Films sieht man Erika Stucky und ihre Partnerin, die Schweizer Rocksängerin Sina, in einem ihrer fantastischen Kurzfilme, mit denen sie ihre Bühnenshow akzentuieren, wie sie in einer Gruft voller Totenschädel eine alte Inschrift entziffern: „Was ihr seid, das waren wir. Was wir sind, das werdet ihr.“ Besser lässt sich die Programmatik der drei Künstler, aber auch die des Films nicht fassen: fließend zwischen den Zeiten wie auch den Gegensätzen, wobei immer auf das Verbindende, das Miteinander in einem filigranen Flechtwerk kultureller und ethnischer Beziehungen rekurriert wird. „Heimatklänge“ ist deshalb auch weit mehr als eine klassische Dokumentation, nämlich fast schon ein philosophisches Traktat. Sicher, einerseits ist der Film überbordend reich an spannenden, wissenswerten Informationen, vor allem zu den drei Porträtierten: der helvetisch-amerikanischen Performance-Künstlerin Erika Stucky (geb. 1962), die im Jazz, dem Pop-Song und der Weltmusik ebenso beheimatet ist wie in der Volksmusik ihrer Schweizer Heimat, wobei sie der Spagat zwischen den Kulturen stets anregt und inspiriert; dem Appenzeller Noldi Alder (geb. 1953), der als Spross einer weltberühmten Volksmusiker-Dynastie („Alder Buebe“) groß wurde, sich später aus den folkloristischen Grenzen befreite und seinen Gesang als schöpferische Interaktion zwischen Mensch und Natur weiterentwickelte; schließlich Christian Zehnder (geb. 1961), Sänger und Obertonkünstler, Lehrbeauftragter, Pädagoge und Therapeut, der am weitesten die theoretische Grundlagenforschung vorantreibt, ohne durch solche reflexiven Gedanken je etwas von seiner musikalischen Emphase und Sinnlichkeit, seinem ungebrochenen Staunen angesichts der eigenen stimmlichen Möglichkeiten und Grenzenlosigkeit einzubüßen. Andererseits ist es genau dies, worauf auch der Film zusteuert, wenn er seine „Dramaturgie“ des Beobachtens behutsam variiert und zu einer Utopie der Freiheit und des Freiseins weitet. Schwietert „bändigt“ sein vielfältiges Material nur scheinbar, indem er es in stimmungsvolle Naturaufnahmen von engen, verhangenen Tälern, Wolken und tief hängendem Morgendunst einbettet; indem er ein Gefühl für eine vorgebliche geistige und räumliche Enge aufbaut, überwindet er dieses im selben Atemzug, öffnet sich für „Land und Leute“, vermittelt in seinen Annäherungen Respekt und Neugier; dabei weitet sich der Blick in den sich aufhellenden Himmel über der Landschaft, um am Ende emphatisch jubilierend die Weite menschlicher Ausdrucksmöglichkeiten und -fähigkeiten in Gesang und Musik zu feiern – was sich zur höchst unterhaltsamen, mitreißend schönen Hymne auf die schöpferische Freiheit auswächst. „Wir können so frei sein“, erklärt Noldi Alder. „Wenn wir wüssten, wie frei wir sein können, würden wir zerplatzen.“ In diesem Sinne verdichtet sich „Heimatklänge“ zu einem leidenschaftlichen Gefühlsausdruck, einem visuell wie melodisch reichen filmischen Jubilus, eine Form, die bereits der Theologe und Philosoph Augustinus von Hippo beschrieb als das „wortlose Ausströmen einer Freude, die so groß ist, dass sie alle Worte zerbricht“.
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