Weißer Engel

Drama | Türkei 2007 | 125 Minuten

Regie: Mahsun Kirmizigül

Einem Istanbuler Krankenhaus entflohen, gerät der Patriarch einer osttürkischen Großfamilie in ein Altenheim. Die dortigen Insassen nehmen ihn herzlich auf, beklagen sich aber, von ihren Kindern und Enkeln abgeschoben worden zu sein. Gemeinsam begibt man sich auf die Reise in die Osttürkei, wo man die verloren gegangene Würde wiederfindet. In Teilen epischer, visuell kraftvoller Diskurs über den Umgang mit Alter und Tod, dessen moralische Botschaft den traditionellen familiären Zusammenhalt gegen urbanen Individualismus ausspielt. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
BEYAZ MELEK
Produktionsland
Türkei
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Boyut Film
Regie
Mahsun Kirmizigül
Buch
Mahsun Kirmizigül
Darsteller
Yildiz Kenter · Mahsun Kirmizigül · Nejat Uygur · Sarp Apak · Arif Erkin
Länge
125 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Im vorigen Kinowinter machte das türkische Kino auch in Deutschland von sich reden, als eine Reihe kommerzieller Produktionen, zum Teil recht planlos, auf den hiesigen Markt geworfen wurden. Titel wie „Coole Schule“ (fd 38 092), „Türken im Weltall“ (fd 37 973) oder „Der letzte Osmane“ (fd 38 036) zielten auf das einheimische Massenpublikum, erreichten auf dem westeuropäischen Markt aber kaum Anteile bei nicht-türkischstämmigen Zuschauern. Diese wenden sich traditionell eher dem türkischen Arthauskino zu, das dieser Tage mit Nuri Bilge Ceylans „Jahreszeiten“ (fd 38 356) und Özer Kiziltans „Takva – Gottesfurcht“ (fd 38 436) in den deutschen Kinos reüssiert. Parallel behauptet sich auch der türkische Mainstream – mit „Weißer Engel“ ist dem bisher als Popstar bekannten Mahsun Kirmizigül ein ernstzunehmendes Melodram über die Würde des Alters und den Tod gelungen. Der sterbenskranke Mala Ahmet, Patriarch einer Großfamilie im Osten der Türkei, flieht aus einem Istanbuler Krankenhaus, als man ihn dort in eine Röntgenmaschine schieben will. Seine Flucht endet vor dem Eingang eines Altenheims, wo er von den anderen Insassen herzlich empfangen wird. Die wissen, wie es ist, „abgegeben“ worden zu sein, ohne weitere Anteilnahme der Kinder und Enkel auf den Tod zu warten, und wundern sich daher umso mehr über die beiden ältesten Söhne des schweigsamen Neulings, die durch den Garten des Heims streifen, um ihren entlaufenen Vater wieder nach Hause zurückzubringen. Im Laufe der 125 Filmminuten kommt man sich näher, am Ende lädt Ahmet seine neuen Freunde in sein Dorf in der Nähe von Diyarbakir ein. Während der Reise wird den Alten nicht nur Gastfreundschaft, sondern auch Würde entgegengebracht – ein Begriff, der, so suggeriert es der Film, in der Hektik Istanbuls verloren gegangen ist. Die moralische Botschaft von Kirmizigüls Debüt als Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller ist eindeutig: Es geht um die traditionelle Form familiären Zusammenhalts, das Codewort „Respekt“ steht ganz oben auf der Agenda. Dass es dabei mitunter sentimental zugeht, verwundert kaum, schließlich gehört Kirmizigül zu den erfolgreichsten Arabesk-Fantezi-Musikern, einer Musikrichtung, die mit ihren verpoppten, orientalisch getragenen Melodien und Texten vor allem den Herzschmerz ihrer Sänger in den Vordergrund stellt. Doch „Weißer Engel“ ist kein reines Rührstück. Hier dürfen, fürs kommerzielle Kino ungewöhnlich, die Alten Falten haben und den Tod herbeisehnen. Seine Stärken entwickelt der Film vor allem in der zweiten Hälfte, als die Heimbewohner in einem Minibus ihre Reise gen Osten antreten. Eine Reise, die über den Zielort, Ahmets ärmliche, aber herzenswarme Heimat am Tigris, weiter ins Jenseits führt. Kirmizigül inszeniert die Momente des Abschieds vom hiesigen Dasein präzise und mit einer visuellen Kraft, deren mitunter monumentaler Wirkung man sich kaum entziehen kann, etwa der beachtenswerten Schlüsselszene, als die titelgebende Protagonistin des Films in einer Salzwüste ihrem weiteren Schicksal entgegengeht. Hier beweist „Weißer Engel“ epische Qualitäten, deren Mythologie einige Szenen später wieder von den Witzen im Dorf eingeholt wird. Das Leben geht eben weiter – diesseits wie jenseits. Mit dem pragmatischen Nebeneinander von Derbheit und Mythos proklamiert „Weißer Engel“ Volksnähe, ohne die ihm innewohnende Spiritualität zu banalisieren, wie es so manche Hollywood-Produktion tut. Den Verfechtern eines oft vom Jugendkult und Effizienzdenken geprägten Urbanismus schreibt er die Frage nach dem würdevollen Umgang mit dem Altern und dem Tod als Normalfall ins Stammbuch und verweist damit auf den Gegensatz zwischen westlichem Pragmatismus und östlicher Mythologie – nicht zufällig findet Kirmizigüls Reisegesellschaft ihre Erlösung im Osten.
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