Dokumentarfilm | Frankreich 2008 | 128 Minuten

Regie: Laurent Cantet

Basierend auf einem Sachbuch von François Bégaudeau, nimmt der Film semidokumentarisch am Französisch-Unterricht in einer durchschnittlichen, das heißt kulturell heterogenen Pariser Mittelstufen-Klasse teil. Im Fokus steht dabei der Lehrer, wobei die konzentrierte, zum Teil atemlose Erzählweise des Films den Druck vermittelt, der auf Lehrern wie Schülern lastet. Von den humanistischen Bildungsidealen bleibt in der Praxis nur ein ferner Nachhall übrig. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ENTRE LES MURS
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Haut et Court
Regie
Laurent Cantet
Buch
François Bégaudeau · Robin Campillo · Laurent Cantet
Kamera
Pierre Milon
Schnitt
Robin Campillo
Länge
128 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Concorde (16:9, 2.35:1, DD3.0 frz./dt., dts dt.)
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Diskussion
„Die Klasse“ (im Original treffender „Entre les murs“) erzählt von dem Lehrer François und seiner Klasse. Eine Durchschnittsschule am Rand von Paris, mit durchschnittlichen, das heißt massiven Problemen. Der Film verlässt diese Schule nie und unternimmt so visuell jene Integration durch Angleichung, von der und deren Tücken er handelt; er konzentriert sich dabei vor allem auf den Unterricht selbst: François unterrichtet Französisch, liest mit den Schülern Voltaire und „Das Tagebuch der Anne Frank“, es gibt aber auch Grammatik- und Wortlektionen. Die Auswahl des Unterrichtsstoffs ist aufs Kinopublikum bezogen und keinesfalls zufällig. Sprache als Medium der Vermittlung und Kommunikation über Unterschiede hinweg, aber auch als Medium der Selbsterkenntnis und Identitätsfindung, der (Selbst-)Erziehung zu Mündigkeit, Literatur und Philosophie als Wissen des Allgemeinen und Humanen an sich. Der Stoff bildet im Film die Kulisse und das Material für die alltäglichen Kulturkämpfe; der Klassenraum wird zum Mikrokosmos der Gesellschaft. Neben grundsätzlich Universellem spielen auch spezifisch französische Faktoren eine große Rolle: Weil die Klasse kulturell überaus heterogen zusammengesetzt ist, kann man gar nicht anders, als an die brennenden Banlieus der vergangenen Jahre zu denken. Der Film führt die Praxis unserer Ideale vor, zeigt, was es bedeutet, wenn Schule auch als Instrument sozialer und kultureller Integration gedacht wird, und was das bedeuten könnte: Schule der Nation. Laurent Cantets Perspektive ist dabei parteiisch und im besten Sinne französisch: also bedingungslos für Aufklärung, für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, und zentralistisch, institutionell, vom Lehrer her gedacht. Während die Schüler untereinander nie gezeigt werden, gibt Cantet den Lehrern Raum, ihren Gesprächen sowie ihren Zweifeln an den Mühlen der Bürokratie, der Formulare und „informellen“ Runden mit Vorgesetzten und Elternvertretern – der Politik der Schule. Dem zugrunde liegt eine sehr prinzipielle, idealistische, aber vor allem optimistische Idee von Pädagogik: Der Mensch ist von Kultur aus gut – und der Lehrer das wichtigste Instrument dieser Erziehung, der Soldat an der Front des „Zivilisationsprozesses“. Man darf hier daran erinnern, dass Lehrer und Erziehung in Frankreich mit seiner anderen Bildungstradition schon immer einen höheren Rang hatten als in Deutschland. Schon mehrfach überraschte in den letzten Jahren Filme aus Frankreich, die Lehrer und ihren Arbeitsalltag ins Zentrum rückten: „Sein und Haben“ (fd 35 751) von Nicholas Philibert, vor allem aber Bertrand Taverniers „Es beginnt heute“ (fd 33 992). Beide Filme ähneln Cantets Werk und sind keineswegs schlechter als „Die Klasse“. Bei diesem ist sein halbdokumentarischer Charakter ausschlaggebend. Denn ihm liegt ein Buch von François Bégaudeau zugrunde, in dem dieser seinen Arbeitsalltag als Französischlehrer beschreibt. Bégaudeau spielt im Film persönlich den Klassenlehrer, aber nicht sich selbst, wie Cantet betont, der auf den fiktionalen Anteil des Films Wert legt. Das gilt auch für die Schüler. Allerdings ist Bégaudeau kein gewöhnlicher Lehrer, auch nicht für Frankreich, sondern einer mit Star-Qualitäten. Denn Bégaudeau veröffentlichte in seiner Freizeit drei Romane, eine fiktive Biografie von Mick Jagger und arbeitet außerdem als Fußballkolumnist für „Le Monde“. Kinematografisch ist „Die Klasse“ ein nüchterner, konzentrierter Film: Spannendes Kino, das trotzdem Wünsche offen lässt. Trotz der „Goldenen Palme“ in Cannes soll nicht verschwiegen werden, dass „Die Klasse“ zwar ein guter, auch künstlerisch interessanter und mutiger Film, aber unter Cantets Filmen der uninteressanteste ist. Cantet, Jahrgang 1961, ist kein Unbekannter. Er gehört gemeinsam mit Claire Denis, Arnaud Desplechin, Abdellatif Kechiche und Christophe Honoré zu den wichtigen Stimmen seiner Generation der 40- bis 50-Jährigen, die derzeit das Erbe des Autorenkinos zeitgemäß neu formulieren und erneuern und damit eine Renaissance des französischen Kinos einleiteten. Cantets Filme „Ressources humaines“ (fd 34 942), „Auszeit“ (fd 35 621) und „In den Süden“ (fd 37 794) gewannen wichtige Preise und liefen auch im deutschen Kino. Visuell fordert „Die Klasse“ nicht wirklich heraus, sondern mischt in quasidokumentarischer Manier in den Innenräumen Halbtotalen mit Nahaufnahmen. Die Bilder sind „clean“ und könnten auch einem Fernsehfilm entstammen. Der Film gönnt sich keine Ruhe, kein Durchatmen. Das ist Konzept, um die fortwährende Anspannung zu zeigen, der Schule, Lehrer und Schüler ausgesetzt sind: die Klasse als Druckkammer. Nahezu fortwährend wird geredet, das Szenario hat viele lose Enden; dadurch hinterlässt der Film den Eindruck einer Zwischenaufnahme, vieles wird nur angedeutet, bleibt für den Verlauf der Geschichte folgenlos. Künstlerisch steht Cantets Film in der Mitte zwischen dem Versuch, filmisches Neuland zu betreten, und dem neuen Trend zum Arthouse-Mainstream, der sich der Industrie nur scheinbar entgegenstellt, in Wahrheit aber mit dem Strom schwimmt und als Bausatz nach vorgestanzten Formeln funktioniert: entweder Ethno-Emotion oder politische „Relevanz“, in jedem Fall sentimental und mit einer finalen „Lösung“ – von solchen kleinen Fluchten ist auch „Die Klasse“ nicht weit entfernt. Allerdings schmeichelt Cantet dem an Komplexität desinteressierten Zeitgeist keineswegs. „Die Klasse“ gibt sich spröde und ist auch nicht leicht konsumierbar. Ein Film, der einen nicht bestätigt, sondern herausfordert und in Frage stellt. Man geht mit dem Lehrer François durch die Hölle.
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