My Son, My Son, What Have Ye Done?

Psychothriller | USA/Deutschland 2009 | 88 Minuten

Regie: Werner Herzog

Ein junger Mann soll in einem Vorort von San Diego seine Mutter ermordet haben. Zwei Polizisten sollen ihn, der angeblich Geiseln genommen hat, zur Aufgabe bewegen. Die geistige Verfassung des mutmaßlichen Täters scheint fragwürdig: Hat ihn seine Theaterrolle als Orest auf den Spuren des antiken Mythos zum Muttermord getrieben? Werner Herzog durchsetzt den Thriller mit sardonisch-absurden und philosophisch-surrealen Spitzen und löst die Handlung mittels Rückblenden in eine bezugsreiche Bricolage auf. Das kongenial besetzte Filmexperiment verbindet reizvoll den amerikanischen (Alb-)Traum mit Versatzstücken antiker Mythen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MY SON, MY SON, WHAT HAVE YE DONE?
Produktionsland
USA/Deutschland
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Defilm/Industrial Entertainment/Paper Street
Regie
Werner Herzog
Buch
Herbert Golder · Werner Herzog
Kamera
Peter Zeitlinger
Musik
Ernst Reijseger
Schnitt
Joe Bini · Omar Daher
Darsteller
Willem Dafoe (Detective Hank Havenhurst) · Chloë Sevigny (Ingrid) · Michael Shannon (Brad McCullum) · Brad Dourif (Onkel Ted) · Loretta Devine (Miss Roberts)
Länge
88 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Psychothriller
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen dt. untertitelbaren Audiokommentar des Regisseurs, des Produzenten Eric Bassett und des Co-Autors Herb Golder.

Verleih DVD
Kinowelt/Arthaus (16:9, 1.85:1, DD5.1 engl./dt.)
Verleih Blu-ray
Kinowelt (16:9, 1.85:1, dts-HDMA engl./dt.)
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Diskussion
Werner Herzogs furioses Comeback in der deutschen Filmszene hatte eine erstaunliche Halbwertszeit. Obwohl die Filmkritik hierzulande lange Zeit unerhört von und zu seinem (internationalen) Ruhm sang, gleich zwei neue Herzog-Filme 2009 in Venedig im Wettbewerb liefen und Herzog 2010 bei der „Berlinale“ als Jury-Präsident fungierte, wollte kaum jemand seinen famosen „Bad Lieutenant“ (fd 39 731) im Kino bestaunen. Weshalb Herzogs neuer Film jetzt wieder (wie so viele seiner Filme seit „Schrei aus Stein“, fd 29 184) „direct to dvd“ veröffentlicht wird. Was für eine Schande! Aber immerhin, dnn „My Son, My Son, What Have Ye Done“ ist noch etwas waghalsiger, noch etwas mutiger im Umgang mit den Genre-Konventionen als „Bad Lieutenant“. Der Film erzählt von einem Gewaltverbrechen im familiären Kontext und auch davon, dass Motive nicht immer überzeugend zu erschließen sind. Doch ein Krimi mit Interesse an Aufklärung ist der Film ohnehin nicht; eher scheint es Herzog um das Erzählen von Geschichten oder um das Sich-Verzetteln beim Erzählen von Geschichten gegangen zu sein. Schon bevor vom Mord an Mrs. McCullum die Rede ist, erzählt Detective Havenhurst seinem Kollegen die Anekdote, wie er einmal einem Streifenpolizisten einen bösen Streich spielte. Als die beiden Detectives am Tatort in einem Suburb von San Diego eintreffen, wendet sich ein junger, etwas derangierter Mann aus der Menge der Schaulustigen ab, der einen Kaffeebecher in der Hand hält, auf dem „Razzle Dazzle“ steht. Dieser junge Mann, so erfährt man später, ist der Sohn der mit einem Samurai-Schwert Ermordeten und mit ziemlicher Sicherheit der Täter. Er heißt Brad McCullum. Es besteht reichlich Anlass, über dessen Schuldfähigkeit nachzudenken. Denn die Ermittler werden am Tatort sehr schnell mit Geschichten konfrontiert, die mittels einer Reihe von Flashbacks auch in Szene gesetzt werden. Nach einer Bootstour in Peru, in deren Verlauf einige seiner Freunde tödlich verunglückten, soll Brad sich verändert haben. Man sieht freilich nur, dass Brad, der hier schon sehr verschlossen und in einer separaten Realität befangen wirkt, davor warnt, die Bootstour bei Hochwasser überhaupt zu wagen. Herzog hat das Material für diese Rückblenden an den Orten gedreht, an denen er einst „Aguirre, der Zorn Gottes“ (fd 18 164) drehte. Überdies enthält der Film dokumentarische Aufnahmen, die im Himalaya und in China, teilweise in Guerilla-Manier, gemacht wurden. Dieses Material dient immer wieder als mysteriöse Interpunktion innerhalb der Versuche einer Rekonstruktion der Hintergründe der Tat. Während Film und Zuschauer noch in Peru weilten, hat sich Brad McCullum in seinem Haus verschanzt und offenbar Geiseln genommen. Auch diese Geiselnahme ist mysteriös, denn von den Nachbarn wird niemand vermisst. Während die Polizei vor Ort das Gelände abriegelt, treffen weitere Zeugen ein: Brads überforderte Verlobte Ingrid und ein Theaterregisseur namens Lee Myers, der mit Brad und Ingrid an einer Inszenierung der „Orestie“ arbeitete, wobei sich Brad in der Rolle des Orest bereits auf der Bühne in einer Muttermord-Konstellation bewegte; muss Orest doch aus Rache für den ermordeten Vater die eigene Mutter Klytämnestra töten. Doch Brads Tat, Ingrids Erinnerungen sind da ganz sicher, ist keine „Verwechslung“ der Theaterbühne mit der Realität, dazu ist das Mutter-Sohn-Verhältnis etwas zu seltsam geraten. Spätestens hier scheint es geraten, sich zu vergegenwärtigen, dass „My Son“ von David Lynchs Produktionsfirma realisiert wurde; der Film kombiniert tatsächlich, lose zwar, Lynchs kalifornisch-surreale Albträume mit Herzogs Sinn für exzentrischen Humor und dem Gespür für das, was Herzog selbst einmal als „ekstatische Wahrheit“ bezeichnete. So fließt hier einiges zusammen: Bilder aus Peru, Indien, China, Bilder einer Theaterinszenierung, Bilder einer furchterregenden Mutter-Sohn-Beziehung, Bilder eines rapiden Realitätsverlusts – Brad erkennt einmal Gott auf einer Haferflockendose – , Bilder von Ermittlungen, die immer wieder mit den Grenzen des Verstehens konfrontiert werden – und das alles unterlegt mit einem kongenialen, zwischen Blues, Latino-Schlager und imaginärer Folklore oszillierenden Soundtrack von Ernst Reijseger. Dazu gibt es allerlei Einschübe herzogscher Heiterkeit, in denen von Flamingos und Straußenvögeln die Rede ist oder Udo Kiers „heavy German accent“ eine Rolle spielt. Mit dem wie gewohnt furiosen, gefährlich brütenden Michael Shannon, der unheimlichen Grace Zabriskie, einer überforderten Chloë Sevigny und den nur partiell am Fall interessierten Detectives Willem Dafoe und Michael Peña ist „My Son“ nicht nur erstaunlich prominent, sondern auch überaus schlüssig besetzt. Herzog gelingt es auf bestechende Art und Weise, unterhaltsam und zugleich subversiv, einige Motive und Figuren aus dem Lynch-Universum in sein eigenes Œuvre zu integrieren – und zwar so bruchlos, dass man wie im Fall von „Bad Lieutenant“ die Stroszek-Figuren aus „Lebenszeichen“ (fd 15 573) und „Stroszek“ (fd 20 331) immer mitdenken kann, darf und muss. Wenn die Welt zum Stillstand kommt, gerät die herkulische Revolte schnell zur Solo-Performance – auch unter der hell gleißenden kalifornischen Sonne und den bonbonfarbenen Dekors. Hinweis: Der Soundtrack von Ernst Reijseger ist bei Winter & Winter erschienen.
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