Pina - tanzt, tanzt sonst sind wir verloren

Dokumentarfilm | Deutschland 2010 | 107 Minuten

Regie: Wim Wenders

Wim Wenders' sehr persönliche, ebenso stimmungsvolle wie poetische Hommage auf die 2009 verstorbene Choreografin und Ballettdirektorin Pina Bausch konzentriert sich im Kern auf vier Tanzwerke der Künstlerin. Sein dokumentarischer Film beobachtet aufmerksam und höchst intensiv die Bühnenaufführungen des Wuppertaler Tanzensembles und verlängert diese dramaturgisch effektvoll in urbane Welten und Naturräume, woraus eine vielschichtige und vielschichtig lesbare Reflexion über Pina Bauschs Tanzkunst resultiert. Die 3D-Technik wird dabei reizvoll fürs filmische Erzählen und "Erklären" eingesetzt und übt mitunter eine eigenwillige stilisierte Faszination aus. (Teils O.m.d.U.) - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Neue Road Movies/Eurowide Film Prod./ZDF/ZDFtheaterkanal/ARTE
Regie
Wim Wenders
Buch
Wim Wenders
Kamera
Hélène Louvart · Jörg Widmer
Musik
Thom Hanreich
Schnitt
Tony Froschhammer
Länge
107 Minuten
Kinostart
24.02.2011
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Dokumentarfilm | Tanzfilm
Externe Links
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Heimkino

Der Film ist als DVD, als 2-Disk Blu-ray (2D und 3D) sowie als 3-Disk Blu-ray (2D, 3D und Bonus BD) erhältlich. Die Extras umfassen u.a. einen immens informativen Audiokommentar des Regisseurs. Die 3-Disk Edition enthält als Extras u.a. ein kommentiertes Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen (39 Min., in 2D oder 3D) sowie ein ausführliches "Making Of", das in 46 Minuten einen von Wenders begleiteten, sehr informativen Einblick in Technik, die Schwierig- und Möglichkeiten der "neuen" Art des Filmemachens gibt. Zudem enthält diese wertig aufgemachte Edition ein Booklet. Die FSK-Freigabe "ab 12" der DVD bezieht sich auf das Bonusmaterial (Trailer etc.), der Film selbst hat eine Freigabe "o.A.". Die 3-Disk Edition ist mit dem Silberling 2011 ausgezeichnet.

Verleih DVD
nfp/Warner (16:9, 1.85:1, DD5.1 dt.)
Verleih Blu-ray
nfp/Warner (16:9, 1.85:1, dts-HDMA dt.)
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Diskussion
Am Anfang ist die Bühne des Wuppertaler Tanztheaters leer. Diesen oftmals so magischen Raum aus der Erinnerung heraus mit neuem Leben, mit Atmosphäre und Emotionen zu füllen, das mag Wim Wenders nach dem Tod von Pina Bausch im Sommer 2009 schwer gefallen sein. Über viele Jahre hinweg plante er eine filmische Annäherung an die weltberühmte Choreografin und Ballettdirektorin; er suchte nach einer adäquaten filmspezifischen Herangehensweise (auch nach einer angemessen Technik), doch dann stand er angesichts des unerwarteten Tods der knapp 69-jährigen Ausnahmekünstlerin mit leeren Händen da. Dennoch blieb wohl so etwas wie eine Verpflichtung, und es waren am Ende Pina Bauschs Tänzerinnen und Tänzer, die Wenders überzeugten, dass man den Film „jetzt erst recht“ machen müsse – zumal, so Wenders, Pina Bauschs Blick noch auf allem lag. So füllt sich nun, zunächst zögerlich und behutsam, mit vielen „sanften“ Überblendungen, der Bühnenraum mit Leben, mit Kulissen, mit Licht, Musik und Bewegungen. Es ist wie das Hinabtauchen in einen Traum – oder vielleicht auch das genaue Gegenteil: das Erwachen aus einem Traum, wenn man sich vergewissert, dass nach einem tiefen Schlaf immer noch etwas da ist, das nachwirkt und bleibt. „Das Frühlingsopfer“ mit der Musik von Igor Strawinski war für Wenders eine der ersten Begegnungen mit Bauschs Arbeit; nun entsteht das Stück in einem langen, mitreißenden Filmprolog neu. Man sieht, wie Bühnenarbeiter den Tanzboden mit Erde einstreuen, wie eine auf einem leuchtend roten Stoff ruhende Tänzerin schläft, wie sich der dunkle Raum um sie herum immer mehr mit Licht füllt, aus dem barfüßige Tänzerinnen in dünnen Hemdchen aufscheinen; Tänzer kommen hinzu, Frauen und Männer organisieren sich, bilden Gruppen, Fronten, sind Gegner, die sich traktieren, abgrenzen und annähern, man wittert Gefahr, spürt förmlich Ängste, verfolgt dieses bedrohliche Ritual um die Erwählte als ekstatisches tänzerisches Fanal, das sich bis zur Erschöpfung steigert. Und man spürt sehr genau, was später die Ensemble-Mitglieder in ihren mehrfach einmontierten kurzen Statements in Worte zu fassen versuchen: jene Mischung aus Zerbrechlichkeit und ungeheurer Kraft, die wohl auch Pina Bausch selbst innewohnte. Wim Wenders’ Annäherung an Pina Bausch als „Dokumentarfilm“ im herkömmlichen Sinn zu kategorisieren, fällt schwer. Viel zu persönlich, viel zu poetisch und betont „unaufklärerisch“ nähert er sich der Künstlerin, ihrem Ensemble und ihrem choreografischen Werk, setzt primär auf die reine Wirkkraft dieser ganz besonderen, „magischen“ Tanzform als schillerndem, ebenso schönen wie beunruhigenden Spiegel eines individuellen Daseins- und Kunstverständnisses, bei dem sich die Trennung von Bühne und Leben aufhebt und sich subtil beobachtete Psychogramme heutiger Menschen abzeichnen – Menschen, die mittels ihrer akrobatischen und doch so „alltäglich“ erscheinenden Körpersprache schlicht und einfach nur „erzählen“: von Ängsten und Nöten, vom Leiden an der Einsamkeit, aber auch von der Lust am Verbotenen, am Leben überhaupt. Wenders sucht seinerseits keine Worte dafür, sondern visuelle Entsprechungen; auch er verlässt die Bühne, folgt den Tanzenden in die Straßen der Stadt Wuppertal, in die freie Natur, in einen herbstlichen Park, an ein Flussufer, in eine Industrieanlage im Ruhrgebiet. Wenn sich dabei „tatsächliches Geschehen“ abbildet, dann allenfalls im Sinne eines poetischen „Reenactment“ als vielschichtige und vielschichtig lesbare Reflexion über Pina Bauschs Tanzkunst auf allen Ebenen einer äußeren wie inneren (Aus-)Wirkung. Die Bandbreite der optischen Einfälle ist beeindruckend, ebenso überraschend wie effektvoll, nie ausschließlicher Selbstzweck, sondern stets filmischer Resonanzboden, der die Schwingungen des Tanzens aufnimmt: wenn sich eine Tänzerin im Stück „Café Müller“ nach einem Schnitt nicht mehr am Bistrotisch auf der Bühne befindet, sondern an einem ganz ähnlichen Tisch inmitten eines flachen Flussbettes sitzt; wenn die Bühnenabläufe dreier Aufführungen von „Kontakthof“ mittels Montage so raffiniert verwoben werden, dass drei Generationen quasi miteinander auftreten; wenn das rote Opfertuch in „Le sacre du printemps“ unmittelbar der Kamera, also auch dem Kinobesucher angedient wird. Pina Bauschs tänzerische Kunst benötigt logischerweise den dreidimensionalen (Bühnen-)Raum, sodass Wenders’ Hinwendung zum 3D-Film nachvollziehbar und konsequent ist. Ob dies die filmisch einzige und ultimative „Wahrheit“ gewesen sein mag, sei dahingestellt – denkt man etwa an Pedro Almodóvars visuelle Verdichtung einer „Café Müller“-Szene in „Sprich mit ihr“ (fd 35 514), dann weiß man, wie eindrucksvoll und intensiv auch das zweidimensionale Kino mittels Veränderung der Tiefenschärfe oder der Kamerapositionierung Wirkung erzielen kann. Dennoch rechtfertigt sich die 3D-Technik auf angenehme Weise – weil sie einerseits nie „protzt“, sich andererseits deutlich darum bemüht, die neue Technik sinnvoll fürs filmische Erzählen und „Erklären“ einzusetzen. Die Wirkung ist oft verblüffend und einleuchtend zugleich, vor allem dann, wenn 3D nicht „realistisch“ erscheint, sondern eine eigenartige stilisierte Faszination ausübt: etwa in der Wuppertaler Schwebebahn, wenn die variierende Distanz zu den vorbeiziehenden Häuserfassen ins Spannungsverhältnis zum Tanz in der Bahn tritt, vor allem aber im Stück „Vollmond“, wenn Pina Bausch eindrucksvoll mit den Elementen spielen lässt und sich die pure Freude am Umgang mit Wasser nun im Film wortwörtlich in den Raum ergießt. Hier gelingt es Wenders tatsächlich, der Kunst Pina Bauschs ein eigenes „filmisches Bühnenbild“ entgegenzustellen, wenn er sinnlich, poetisch, im guten Sinn auch spektakulär innere Zustände nach außen bringt und einen eigenen emotionalen Film-Raum schafft, in dem sich die getanzte psychologische Handlung entfaltet. Wie könnte man Pina Bausch besser würdigen?
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