Life in a Day - Ein Tag auf unserer Erde

Dokumentarfilm | Großbritannien/USA 2011 | 95 Minuten

Regie: Kevin Macdonald

Ein mit Hilfe der Internet-Plattform YouTube realisiertes Filmprojekt, bei dem dazu aufgerufen wurde, am 24.7.2010 einen Ausschnitt seines Lebens mit der Kamera festzuhalten. Aus über 80.000 Beiträgen kompiliert der Film einen Querschnitt des globalen "Lebens an einem Tag" als Kaleidoskop von Eindrücken, dessen Vielstimmigkeit und Simultaneität überwältigt. Neben thematische Passagen und harmlosere Stücke treten nachdenklichere und düstere Einblicke, wobei das Ergebnis von hohem Verantwortungsgefühl zeugt; zwangsläufig bleibt der "Tag", der aus der Collage entsteht, ein künstliches Produkt, doch liegt gerade in der Verdichtung der Alltäglichkeit die Qualität des Films, etwa wenn das Banale immer wieder ins Besondere kippt. (O.m.d.U.) - Ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
LIFE IN A DAY
Produktionsland
Großbritannien/USA
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Scott Free Prod./LG/YouTube
Regie
Kevin Macdonald
Buch
Kevin Macdonald
Musik
Harry Gregson-Williams
Schnitt
Joe Walker
Länge
95 Minuten
Kinostart
09.06.2011
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
REM (16:9, 1.78:1, DD5.1 engl.)
Verleih Blu-ray
REM (16:9, 1.78:1, dts-HDMA engl.)
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Diskussion
Was ist Kino? Darauf muss man stets neue Antworten finden, schließlich definiert sich das Kino unablässig neu. Was es auch muss, wenn ihm neue Medien (wie das Fernsehen in den 1950er-Jahren) den Rang streitig machen. Produzenten haben aus der Not eine Tugend gemacht und ihr Medium stets für Einflüsse, Synergien und Innovationen offen gehalten. Die Reihe mehr oder weniger revolutionärer Technologien, die das Kino für sich in Dienst stellte, reicht vom Synchronton über den Farbfilm und diverse Breitwandformate bis zur High-Definition-Aufnahme und 3D-Technik. Natürlich gehört auch das Internet dazu, das heute nicht nur Ort und Verbreitungsmedium für Filme geworden ist, sondern Dramaturgien und Erzählformen des Kinos prägt. Ohne das Internet wäre ein Projekt wie „Life in a Day“ undenkbar. Dem Aufruf via Online-Portal YouTube, am 24. Juli 2010 mit der Kamera aktiv zu werden, sind weltweit über 80.000 User gefolgt. 4.500 Stunden Videotagebücher aus allen Ecken der Erde wurden eingesandt und von einem professionellen Team gesichtet und vorstrukturiert. Regisseur Kevin Macdonald, der im Dokumentar- wie auch im Spielfilmbereich („Der Adler der neunten Legion“, fd 40 331) zu Hause ist, sowie Cutter Joe Walker und Komponist Harry Gregson-Williams gaben dem Material das endgültige Gesicht. Das Ergebnis zeugt von hohem Verantwortungsgefühl. Momente entlarvender oder peinlicher Selbstdarstellung wurden kaum aufgenommen. Insgeheim wüsste man aber doch gern, was Michael Moore oder John Waters aus den Einsendungen fabriziert hätten. Hinsichtlich der Multiperspektive auf einen Erdentag und dem Gefühl von Simultaneität, die der Film vermittelt, ist „Life in a Day“ überwältigend. Die Ausgangssituation besitzt große Faszinationskraft, und Macdonald gelingt es, dieser Energie im Ergebnis gerecht zu werden. Ohne Rücksicht auf Zeitverschiebungen simuliert die Montage den Eindruck eines normalen Tagesablaufs. Aus den zahlreichen Aufnahmen der Vollmondnacht des 24. Juli wurde eine charismatische Introduktion geschnitten. Nachdem der Film diverse Morgenaktivitäten zwischen New York und Kuala Lumpur abgehandelt hat, verlagert sich der Fokus zeitweise weg von der Chronologie der Ereignisse. Einige Passagen widmen sich Fragen, die im Aufruf gestellt wurden: Was tragen Sie in den Taschen? Was lieben Sie? Wovor fürchten Sie sich? Eine Technik, für die die britische Gruppe „Mass Observation“ Pate stand, zu der unter anderem der Filmemacher Humphrey Jennings zählt. Andere Strukturen werden von den Beiträgen selbst vorgegeben wie im Fall einer hübschen Sequenz über Arbeit, die im Rhythmus Korn stampfender und dazu singender Afrikanerinnen alle möglichen Tätigkeiten zusammenfasst. Einige Personen werden leitmotivisch mehrfach gezeigt, darunter ein kleiner Peruaner, der täglich stundenlang Schuhe putzt, ein Koreaner, der mit dem Fahrrad um die Welt fährt, eine frisch operierte Amerikanerin, die zu Hause Infusionsbeutel mit sich herumschleppt und ihrem verängstigten Sohn die Situation zu erklären versucht. Da werdende Väter ihre Videokamera gerne mit in den Kreißsaal nehmen, sind auch einige Geburtsszenen zu sehen, inklusive einer Giraffengeburt im Tierpark. Einer der Kameramänner wird im Kreißsaal ohnmächtig; die Einstellung der plötzlich zu Boden kippenden „subjektiven Kamera“ ließ sich Macdonald nicht entgehen. Die Crux solcher Kleinstunfälle, humoriger Hochzeiten sowie Bilder niedlicher Babys, die auf Surfbrettern reiten, ist indes ein gewisser Pannenshow-Appeal. Glücklicherweise wechseln sich die mal entzückenden, mal aufdringlichen Stückchen mit ausgedehnten, nachdenklichen oder atmosphärischen Betrachtungen ab. Es liegt in der Natur der Sache, dass „Life in a Day“ ein künstliches Produkt geworden ist – mit all seinen kontinentalübergreifenden Sprüngen, gewagten Montagesequenzen zu Themen wie Aufwachen, Frühstück, Freizeit und den größeren Erzählbögen, die nicht zuletzt von der (mitunter arg gefühligen) Filmmusik gestützt werden. Zudem ist der Film weniger „basisdemokratisch“, als er aussieht. Er enthält keine Plädoyers für ein wie auch immer erträumtes besseres Erdenleben, sondern zeigt die Welt – oder tausend kleine Welten – in ihrer oft banalen Beschaffenheit. In der Verdichtung dieser Alltäglichkeit liegt zugleich die Qualität von „Life in a Day“. Das Banale kippt hier ohnehin immer wieder ins Besondere. Trotz grenzwertiger Streicherpassagen auf dem Soundtrack verarbeitet Macdonald das Material nicht zum filmischen Äquivalent des 1980er-Jahre-Benefiz-Schmusesongs „We are the World“. Party-Stimmung hat hier Seltenheitswert, Schattenseiten werden nicht ausgespart. Verarmte Familien, die gekeulte Kuh, Waffennarren, Verwirrte und Verirrte behaupten ihren Platz, ebenso wie Aufnahmen vom Love-Parade-Unglück in Duisburg, das sich ausgerechnet am Auswahltag ereignete. Das Schlusswort spricht eine junge Frau, die am 24. Juli den ganzen Tag gearbeitet und „überhaupt nichts“ erlebt hat. Eine verblüffende Volte, vielleicht ein selbstironischer Hinweis darauf, dass man diese 24 YouTube-Stunden nicht allzu ernst nehmen sollte. Morgen ist eben auch noch (m)ein Tag, selbst wenn der nicht ins Kino kommt.
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