Brownian Movement

- | Niederlande/Deutschland/Belgien 2010 | 100 Minuten

Regie: Nanouk Leopold

Eine verheiratete Ärztin mietet eine Wohnung, die sie für sexuelle Begegnungen mit Liebhabern nutzt, deren Körper durch unterschiedliche Formen der "Abweichung" nicht in gängige Normen passen. Als dieser Ausbruch aus ihrer bürgerlichen Existenz auffliegt, verliert sie ihre Anstellung und wird zur Therapie gezwungen. Erklärungen für ihr Tun kann und will sie nicht geben. Die ebenso rätselhafte wie sinnliche "Versuchsanordnung" nimmt über das Porträt ihrer hervorragend gespielten Protagonistin die Unfähigkeit einer Gesellschaft in den Blick, nicht in vertraute Schemata passende Handlungen und Sehnsüchte zu tolerieren. Ein strapaziöser, gleichwohl mit beachtlichem Stilwillen inszenierter Film, der bürgerliches Drama und Farce vereint, um einen Entfremdungsprozess sichtbar zu machen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
BROWNIAN MOVEMENT
Produktionsland
Niederlande/Deutschland/Belgien
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Circe Films/Coin Film/Serendipity Films
Regie
Nanouk Leopold
Buch
Nanouk Leopold
Kamera
Frank Van den Eeden
Musik
Harry de Wit
Schnitt
Katharina Wartena
Darsteller
Sandra Hüller (Charlotte) · Dragan Bakema (Max) · Sabine Timoteo (Psychiaterin) · Ryan Brodie (Benjamin) · Frieda Pittoors (Hausherrin)
Länge
100 Minuten
Kinostart
30.06.2011
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Lighthouse (16:9, 2.35:1, DD5.1 dt.)
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Diskussion
Dies ist ein geheimnisvoller, unverhohlen exzentrischer Film. Ein Film, der nicht um sein Publikum buhlt, es aber doch durch Intelligenz und seltsamen Witz verführt. Ein bürgerliches Drama, das seine traurigen Seiten hat, und doch auch eine offene Farce, die die Absurditäten der Gesellschaft, aus deren Herz sie kommt, mit den Frustrationen und Leidenschaften ihrer Figuren auf der Leinwand entfaltet. Schließlich ein sinnlicher Film, der dem Zeigen mehr vertraut als dem Erzählen, den Bewegungen mehr als der Psychologie, den Körpern mehr als den Worten. Im Zentrum von allem steht eine junge Frau: Charlotte ist Ärztin in einer Brüsseler Klinik, glücklich verheiratet und Mutter eines Sohnes. Man sieht, was für ein Leben sie führt und wie sie eines Tages unverhofft, ohne Ankündigung und Plan, ausbricht aus diesem Leben. Denn eines Tages mietet sie sich eine Wohnung, eigens für einen Zweck: Heimlich empfängt sie dort Männer zum außerehelichen Sex. Es sind Männer, die sie selbst kaum kennt, die aber eine Gemeinsamkeit verbindet, nach der Charlotte sie ausgewählt hat: Sie sind mit irgendeinem körperlichen Makel behaftet. In Wahrheit fühlt sie sich nur von Körperteilen angezogen, die als ungewöhnlich oder sogar hässlich empfunden werden können. Die Männer sind beispielsweise stark behaart, dick oder besonders alt oder versehrt. Sie haben so überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihrem gutaussehenden, treu sorgenden Ehemann Max. Mit leicht geöffnetem Bademantel auf dem Bett erwartet sie ihre Liebhaber oder sie drapiert sich verführerisch im Sessel. Eines Tages wird Charlottes Geheimnis mehr zufällig aufgedeckt. Sie wird eher gegen ihren Willen, aber nicht gegen ihren Widerstand aufgrund von „mangelnder Empathie“ – was für ein seltsamer Grund! – für berufsunfähig erklärt und zu einer Therapie gezwungen. Sie bekommt Medikamente und soll das Unerklärliche, das ihr begegnet ist, erklären; denn wer so etwas tut, so glaubt ihre Umwelt, der muss doch krank sein. Die Hölle, das sind auch hier die Anderen. Nur in bruchstückhaften Erzählfetzen erklärt Charlotte sich, wohl auch, weil sie es selbst nicht erklären kann und will. Auch vor ihrem Mann soll sie ausbreiten, was sie eigentlich umtreibt. Das Paar, das sich aufrichtig liebt, versucht einen Neuanfang in Indien. Charlotte wird noch einmal Mutter werden und Zwillinge gebären. Das Paar hält aneinander fest, obwohl mit Charlottes seltsamen Erfahrungen etwas zwischen ihnen steht, das sich nie beseitigen lässt. Obwohl sie nicht alles miteinander teilen können. Manchmal träumt Charlotte einfach vor sich hin. Sie lächelt, so als hätte sie etwas in sich entdeckt. Dann streckt sie sich auf dem kalten Beton einer Bauruine aus und reibt ihre Hand an der groben Oberfläche. Regie führte Nanouk Leopold, die sich spätestens mit diesem Film zu einer der interessantesten Regisseurinnen des europäischen Gegenwartskinos gemausert hat – zu einer Autorenfilmerin, die in ihrer eigentümlichen Verbindung von Intellektualität und Sinnlichkeit, Witz und Stilwillen Erinnerungen an die junge Agnès Varda aufkommen lässt: an ein dezidiert „weibliches“ Filmemachen, ohne sich den Katechismen des „feministischen Filmemachenes“ zu verschreiben. Nach mehreren Kurzfilmen und Fernseharbeiten wurde die 1968 geborene Niederländerin Leopold vor allem mit ihrem Film „Wolfsbergen“ bekannt, der 2007 im „Berlinale“-Forum Premiere hatte. Vorausgegangen waren ihr Debüt „Îles flottantes“ (2001) und „Fremd im eigenen Leben“ („Guernsey“, 2005). Allen vier Filmen gemein ist die Erkundung des Terrains von Weiblichkeit und modernen Emotionen. Es geht in ihnen jeweils um Frauen, die nicht mehr ganz jung, aber noch keineswegs alt sind, die aus bürgerlich-liberalen urbanen Milieus stammen und sich in stabilen Liebesbeziehungen befinden, in denen sie erschüttert werden. Während „Îles flottantes“ noch der heiterste ist und im Gewand einer Beziehungskomödie die eigentlich schon katastrophale Geschichte einer Frau erzählt, die ihren Mann aufgrund eines Missverständnisses verlässt, dann aber, als sie zurück will, von ihm abgewiesen wird, verdunkelt sich Leopolds Stimmungspalette mit den folgenden Filmen immer mehr: In „Guernsey“, in dem eine junge Ehefrau – die Charlotte in vielem ähnelt – durch den Selbstmord einer Kollegin in ihrem grauen Yuppie-Alltag zutiefst irritiert wird; in „Wolfsbergen“ um ein anhand der Ehefrau erzähltes Familiendrama. Es sind Entfremdungsprozesse und individuelle Erschütterungen, von denen Leopold erzählt. „Brownian Movement“ ist noch mehr als seine Vorläufer ein Film voller Rätsel und inszeniert mit großem Stilwillen. Man sieht, dass Leopold von den Meistern des europäischen Kino-Existenzialismus der Nachkriegszeit gelernt hat, vor allem vom Antonioni der Jahre um „L’Avventura“ (fd 9966) und „Die Nacht“ (fd 10 291). Auch dort standen nicht zufällig Frauen im Zentrum, das – vergleichsweise – verwundbare, passive und „körperbewusste“ Geschlecht. Getragen wird der Film daher auch quasi im Alleingang von der Authentizität der Hauptdarstellerin Sandra Hüller. Ihr Gesicht, ihre reduzierte Mimik und ihr Witz rücken immer wieder in den Fokus. Als Brownsche Bewegung bezeichnet man in der Physik die scheinbar unkontrollierten Zick-Zack-Bewegungen, die kleine und kleinste, eigentlich leblose Teilchen ohne äußeren Anlass ausführen. In Wahrheit stecken dahinter die Bewegungen der Moleküle und Atome der Wassertropfen. Von Außen gesehen, wirkt das Verhalten dieser Teilchen jedoch vollkommen unkontrolliert und willkürlich. Dass dies das Verhalten der Hauptfigur Charlotte „erklären“ soll, ist offenkundig. Zugleich zeigt der Verweis auf die Naturwissenschaft auch an, dass hier die Filmemacherin eine Versuchsanordnung ausführt, ein antipsychologisches Experiment – so wie Charlotte mit sich experimentiert hat. „Brownian Movement“ ist aber nicht nur ein angenehm desillusionierender Liebes- und Ehefilm, sondern über das individuelle Verhalten seiner Hauptfigur, der in dieser Gesellschaft nicht zu helfen ist, auch umgekehrt ein Porträt dieser Gesellschaft, deren Verhalten nicht weniger unerklärlich ist als das der Brownschen Bewegung. Man erfährt, wie die moderne therapeutische Gesellschaft auf abweichendes, „unerklärliches“ Verhalten reagiert. Wie sie ihre Bürger normiert, kontrolliert und mit einem fürsorglichen Totalitarismus umschlingt, bis sie ersticken. Hier spätestens erkennt man als Zuschauer in Charlotte nicht nur eine merkwürdige, exzentrische, sehr fremde Frau, sondern sich selbst, dem das alles auch passieren könnte, wenn man das nächste Mal etwas tut, was die Anderen wieder nicht verstehen.
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