Halt auf freier Strecke

Drama | Deutschland 2011 | 110 Minuten

Regie: Andreas Dresen

Ein Familienvater erkrankt unheilbar an einem Hirntumor und hat nur noch wenige Wochen zu leben. Zunächst kann der Kranke noch seinen Alltag fortführen, bald aber macht sich die zerstörerische Wirkung des Geschwürs bemerkbar. Eindringlicher Film über die körperlichen und emotionalen Auswirkungen eines Krankheitsverlaufs und Sterbeprozesses, dem mit mobiler Handkamera und einem aus Schauspielern und Laien bestehenden Ensemble eine realistische Annäherung an sein Thema gelingt. Ohne Beschönigung und Rührseligkeit wird der Zuschauer mit den Tatsachen dieses Sterbens konfrontiert, wobei dessen Ungeheuerlichkeit Schritt für Schritt abgebaut wird. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Rommel Film/RBB/ARTE
Regie
Andreas Dresen
Buch
Andreas Dresen
Kamera
Michael Hammon
Schnitt
Jörg Hauschild
Darsteller
Steffi Kühnert (Simone Lange) · Milan Peschel (Frank Lange) · Talisa Lilli Lemke (Lilli) · Mika Nilson Seidel (Mika) · Ursula Werner (Simones Mutter)
Länge
110 Minuten
Kinostart
17.11.2011
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Schneller kann man wohl nicht auf den Punkt kommen. Gleich das erste Bild zeigt in einer langen Einstellung ein Wartezimmer im Krankenhaus. Die Körper haben auf den Stühlen eine gebückte Haltung angenommen, als könnten sie den Launen des Zufalls durch Unscheinbarkeit entkommen. Einen Schnitt weiter ist das Urteil bereits gefallen. Ein Arzt erklärt einem Paar entlang von Röntgenbildern mit schamhaftem Taktgefühl die Diagnose. Ein bösartiger Tumor im vorderen Hirnabschnitt, unoperierbar. Chemotherapie und Bestrahlung so gut wie wirkungslos. Es bleibt eine Lebenserwartung von wenigen Monaten. „Man weiß nicht, warum jemand so eine Krankheit bekommt“, sagt er zu dem Familienvater mit leiser Stimme, „es ist Schicksal.“ Das bedrückend wortlose Gespräch wirkt so echt, wie es zurzeit nur Andreas Dresen im deutschen Kino inszenieren kann. Das mag auch daran liegen, dass der Mediziner weiß, wovon er spricht. Er ist ein Klinikarzt in seinem authentischen Empfangszimmer, so wie die Palliativ-Therapeutin, die den 45-Jährigen in seinen letzten Wochen begleiten wird, in ihrem realen Leben sterbende Menschen betreut. Das Zusammenspiel von professionellen Helfern und Schauspielern ist meisterlich abgestimmt und sorgt neben der auf Realismus getrimmten Handkamera für den verlässlich dokumentarisch anmutenden Ton. Während die Tränen auf dem um Fassung ringenden Gesicht der Ehefrau fließen, sackt das Blut vom puren Zuschauen in die Beine, zumal die Prognose in einem Melodram von Dresen unausweichlich hart ausfällt: Es wird einem nichts erspart. Dabei kennt man das Untergenre des Sterbefilms eigentlich zur Genüge aus Hollywood. Ob „Love Story“ (fd 17 449) oder „Zeit der Zärtlichkeit“ (fd 24 473): Das zwischenmenschliche Reinigen der Affekte infolge eines sich schmerzhaft hinziehenden Abschieds bietet scheinbar automatisch eine an Tragik und moralischer Erbauung reiche Figurenkonstellation. Das ist auch bei Dresens „Tränenfänger“ nicht anders, doch nach „Wolke 9“ über Sexualität im Alter (fd 38 865) packt er nun das Sterben mit dem gleichen Mut zur Wahrhaftigkeit an und schafft es, die drohende Sentimentalität auf ein Minimum zu dimmen. Am Anfang scheint die Beibehaltung der Normalität noch möglich. Frank trifft Arbeitskollegen, hält den Garten sauber oder schraubt Möbel zusammen. Das Damokles-Schwert der ablaufenden Zeit drückt aber auf seine Stimmung, er bekommt Wutausbrüche und den manischen Drang, der Handy-Kamera wie in einem Tagebuch seine hilflos springenden Gedanken anzuvertrauen. Das Arbeiterpaar, das gerade mit zwei Kindern in ein verschuldetes Reihenhaus mit Ausblick auf eine winterliche Wiesenlandschaft gezogen ist, sucht Halt bei der Alternativmedizin. Es sind erschreckend hoffnungslose und fast komische Begegnungen. Statt auf die individuellen Sorgen des Todkranken einzugehen, meint manch eine Psychologin, nach den Ursachen für den Krebs suchen zu müssen und sie in einer gestörten Harmonie zwischen Psyche und Körperenergie zu verorten. Immerhin gibt eine der kuriosen Damen den Ratschlag, sich den letzten Lebensabschnitt schön zu gestalten. Die Familie nimmt darauf Auszeit in einem Freizeitbad, aber ausgerechnet hier schlägt die Krankheit gnadenlos zu. Während die Kinder den Ernst der Lage nicht begreifen wollen und dem urplötzlich hilfebedürftigen Vater Vorwürfe machen, ist Franks Ohnmachtsanfall für seine Frau der Startschuss zur kritischen Endphase. Schleichend verschlechtern sich die Symptome, der Tumor wächst und raubt seinem Opfer peu à peu die Gewalt über den Körper. Dresen filmt die Etappen mit entwaffnender Sachlichkeit. Er neutralisiert das Grauen von Sprachrückgang, Verwirrtheit und Inkontinenz in kleinen Schritten durch langsam sich aufbauende Akzeptanz bei den Außenstehenden. Der Film ähnelt zunehmend einer allergischen Desensibilisierung, er möchte Angst vor dem Unausweichlichen nehmen, und er schafft es auch, nicht nur bei der Familie, die allmählich über sich hinaus wächst und die letzten Momente zu einer intensiven Annäherung nutzt. Leider stört Dresen die perfekt geölte Improvisationsdynamik und das humane Plädoyer für ein würdiges häusliches Sterben durch unnötige Mätzchen. Im Gegensatz zu „Wolke 9“ scheint ihm auf halber Strecke der Mut ausgegangen zu sein. Die kleinen Ausweichinseln, die er mit der Figur des menschelnden Tumors einbaut, mögen zum Durchatmen für ein größeres Publikum gedacht sein. Wenn es sich dieser in der Gestalt von Thorsten Merten auf dem Bett des zunehmend sichtlich Leidenden bequem macht, auf seinen Handybildern grimassiert oder in der Harald-Schmidt-Show Auskunft über seine „bösartigen“ Befindlichkeiten gibt, erweist sich der komödiantische Bruch dieser Tagträumereien als fatal und bedarf jedes Mal einer Neueinstimmung auf den Sog, den die großartigen Schauspieler trotz des schweren Themas bis zum Schluss durchhalten. Mehr an Zumutung und weniger Klamauk wäre besser gewesen, zumal im Finale die Lebensbejahung triumphiert.
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