Die Summe meiner einzelnen Teile

Drama | Deutschland 2011 | 120 Minuten

Regie: Hans Weingartner

Ein junger Mathematiker wird nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik arbeits- und obdachlos. Er verliert sich in Alkohol und Wahn, flieht dann aber mit einem zehnjährigen Waisenkind in die Wälder rund um Berlin, wo er wieder zu sich findet. Ein ambitioniertes Psychodrama, das mit einem furiosen filmsprachlichen Stakkato vom um sich greifenden Orientierungsverlust erzählt. Die märchenhafte Gegenwelt des Walds zeichnet er als eine Art "locus amoenus", mündet dann aber in eine illusionäre Fluchtbewegung, deren dramaturgische Mängel den narrativen Gesamtzusammenhang in Frage stellen. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
kahuuna films
Regie
Hans Weingartner
Buch
Hans Weingartner · Cüneyt Kaya
Kamera
Henner Besuch
Schnitt
Andreas Wodraschke · Dirk Oetelshoven
Darsteller
Peter Schneider (Martin Blunt) · Henrike von Kuick (Lena) · Timur Massold (Viktor) · Andreas Leupold (Vater) · Julia Jentsch (Petra)
Länge
120 Minuten
Kinostart
02.02.2012
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Ein nackter Mann in einem frühlingshaften, lindgrünen Wald. Die Kamera kreist elliptisch um ihn, es flirrt und raschelt, durchs Blätterdach gleißen einzelne Sonnenstrahlen. Hans Weingartner beginnt seinen Film mit einem Déjà-vu: Fast genau so stand Daniel Brühl in „Das weiße Rauschen“ (fd 35 263) auf einer Lichtung im Bergischen Land, als die Dinge um ihn herum zu tanzen begannen. Auch der Plot erinnert an Weingartners Debüt: Ein junger Mathematiker wird nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik arbeits- und obdachlos, verliert sich in Alkohol und Wahn, findet dann aber wieder zu sich, als er zusammen mit einem zehnjährigen Waisenkind in die Wälder rings um Berlin flieht. Dramaturgisch und ästhetisch drängen sich ebenfalls Bezüge zu den anderen Filmen des Regisseurs auf. Doch im Kino erschöpfen sich Déjà-vu-Erfahrungen allzu häufig in bloßen Erkenntnismomenten; was ausbleibt, ist das unheimliche Gefühl des Vertraut-Unvertrauten, das gerade durch den Eindruck der Wiederholung auf irritierende Weise ins Geschehen einbindet. „Die Summe meiner einzelnen Teile“ droht deshalb in mancher Hinsicht allzu schnell und polemisch auf seinen Titel reduziert zu werden, zumal der Eigensinn des Regisseurs erneut kaum zu bändigen ist. Doch die rohe Form des Films mit seinen unaustarierten Sprüngen und Brüchen konfrontiert filmsprachlich durchaus ambitioniert mit Erfahrungen, die nicht so leicht von der Hand zu weisen sind. Zunächst erlebt man den beschleunigten Sturz eines Besserverdienenden durchs soziale Netz. Was bleibt einem, der aus dem Tritt geraten ist, wenn gleich der Job weg ist und die Freundin verlegen mit den Schultern zuckt? In die aschfahle Welt zwischen anonymen Plattenbauten und billigem Fusel mischen sich bald manische Zeichen, zwanghafte Anwandlungen, ein Aufstand der Zahlen gegen den Rest der Persönlichkeit. Als der von Peter Schneider mit extremer Nuanciertheit verkörperte Akademiker Martin Blunt dann auch noch aus der (Sozial-)Wohnung geworfen wird, läuft ihm Viktor über den Weg, ein elternloses Kind, das kaum spricht, und wenn, dann nur Russisch. Die beiden Drop-outs verbinden sich wortlos und landen auf der ermüdenden Suche nach einer Bleibe schließlich im Wald, wo sie in einer Art vorzivilisatorischen Gegenwelt für eine Weile Unterschlupf finden. Hier verebbt nach und nach die urbane Kakophonie, was im Gegenzug allerdings Martins inneren Dämonen Auftrieb verschafft, aus dessen Perspektive der Film erzählt ist. Die Rufe des Jungen, „Martin, Martin“, holen ihn jedoch immer wieder in die Gegenwart zurück, in die sich nach und nach hellere Töne mischen. Mit Thoreaus „Walden“ hat das freilich nur am Rande zu tun, da die Mülleimer der Stadt das Überleben sichern. Irgendwann macht sich auch die Abwesenheit einer Frau bemerkbar, die Martin untergründig in bewohnte Zonen zieht, wo er wie ein Affe in den Bäumen das Treiben der Menschen beobachtet. In einer tollkühnen Verdopplung spielt der Film die Idee einer Aussteigerexistenz anhand eines Briefs durch, der vom Scheitern eines Paars berichtet, das in Portugal den Ausstand probte. Die „Lena“, an die diese Zeilen gerichtet sind, wird für Martin zur fixen Idee, die er in einer Zahnarzthelferin auch zu identifizieren glaubt. Doch je länger und eindeutiger der Film dieser Fährte folgt, die einen Weg in eine alternative „Bürgerlichkeit“ jenseits von Druck und Zwang weisen soll, desto mehr zehrt sich seine Plausibilität und visuelle Vielschichtigkeit auf; an ihre Stelle tritt eine ungute Plotmechanik, die zwar die grundlegende Frage nach der Differenz von Normalität und „Verrücktheit“ finalisiert, aber auch banalisiert. Die quälend lange, filmisch so versierte Schilderung der Desintegration einer Persönlichkeit, die mit einem furiosen Stakkato verkanteter, farbentsättigter Bilder, nur rudimentär eingebundener Flashbacks und „geshutterten“ Handlungsfragmenten vom um sich greifenden Orientierungsverlust erzählt und in der kauzigen, sehr deutschen Waldeinsamkeit einen zunehmend lichteren „locus amoenus“ entdeckt, mündet in eine illusionäre Fluchtbewegung, deren dramaturgische Mängel die intendierte Doppeldeutigkeit konterkarieren. Die Durchlässigkeit zwischen innerer und äußerer Topografie, das Spiel mit dem „inneren Kind“ als Repräsentant heilender Kräfte, büßt im hastig abgespulten Schlussspurt viel an Glaubwürdigkeit ein. Unterm Strich bestärkt das einmal mehr den Eindruck, dass Weingartners ambitionierte Grenzgänge zwischen „verrückter“ Realität und „heilen(den)“ Ausnahmezustände im Grunde an einem strukturellen Defizit leiden. Denn so bleiben am Ende in der Tat primär eine große Zahl starker Einzelmomente ohne zwingenden Gesamtzusammenhang, etwa Martins gespenstische Begegnung mit einem Wolf, der aus dem Nichts zu kommen scheint, für eine atemlose Gegenwart bedrohlich die Leinwand füllt und dann wieder verschwunden ist, als wäre nichts geschehen.
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