© Atrium Verlag (Ausschnitt aus dem Buchcover von „Das fliegende Klassenzimmer“)

Vergesst eure Kindheit nie! Erich Kästners Kinderbücher & das Kino

Über die Verfilmungen von Erich Kästners Kinderbüchern und den steten Versuch, seine zeitlosen Themen einem sich wandelnden Zeitgeschmack anzupassen

Veröffentlicht am
20. Oktober 2023
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Mit der neuen Verfilmung von „Das fliegende Klassenzimmer“ kommt bereits die vierte Umsetzung von Erich Kästners Vorlage in die Kinos. Alle zwanzig bis dreißig Jahre scheint die Zeit reif für eine neue Version des Klassikers. Bei „Das doppelte Lottchen“ und „Emil und die Detektive“ sieht es ähnlich aus. Dabei fällt auf, wie sehr Filmschaffende dazu neigen, Kästners Geschichten in ihre jeweilige Zeit zu transferieren und dem anzupassen, was gerade als zeitgemäß beim jungen Publikum gilt. Ein Rückblick auf Kästner-Adaptionen im Wandel der Zeit.


Es kommt nicht von ungefähr, dass Erich Kästners Kinderbücher vom Moment ihrer Veröffentlichung an ihren Weg in die Kinos fanden und dort nach wie vor zuhause sind. Kästner erzählt so bildhaft wie filmreif, hat sich an Drehbüchern versucht und einigen Filmen auch seine Stimme oder sogar Präsenz geliehen. Aus dem Jahr 2023 darauf zurückzuschauen, bedeutet einen Blick auf unzählige Iterationen von Emils, Gustavs und Ponys, auf hungrige Matzes, kluge Martins und schüchterne Ulis. Für uns Ältere, die wir unseren Klassikern nachweinen, mag zwar jeder neue „Emil und die Detektive“ fad und derivativ erscheinen, im Kino vor jungem Publikum sind sie dennoch erst einmal frisch und neu und womöglich großartig. Oder etwa nicht?

Um die Spannbreite zu verstehen, innerhalb derer sich die deutschen Kästner-Verfilmungen und Neuverfilmungen qualitativ bewegen, genügt ein Blick auf „Die Konferenz der Tiere“.

Im Herbst 2023 startet das neueste „Fliegende Klassenzimmer“ (© Leonine)
Im Herbst 2023 startet das neueste „Fliegende Klassenzimmer“ (© Leonine)


Es geht um die Kinder!

Eine pazifistische Geschichte, 1949 erschienen und von Kästner spürbar unter dem frischen Eindruck des Zweiten Weltkriegs geschrieben, in der die Tiere von den Mächtigen der Welt (man darf sich die dank der Illustrationen von Walter Trier völlig zu Recht als Männer in Anzügen und Uniformen vorstellen) fordern, es solle endlich Frieden herrschen. Schluss mit Ballerei und Ausbeutung. Als alles nichts hilft, kommt die Ultima Ratio zum Einsatz: Die Tiere entführen die Kinder. Alle Kinder, denn sie sind die, die bei den Tieren das Mitleid entfachten: „Es geht um die Kinder!“

Curt Linda machte daraus 1969 einen schrägen und sehr eigenwilligen Zeichentrickfilm, in dem gar nicht so viel gesprochen, dafür vieles umso witziger in Szene gesetzt wird – und eben auch militärische Zurichtungsmaschinerien zu sehen sind, in der die Menschen in militaristische Form gepresst werden.

Gut vierzig Jahre später geht es dann bei der „Konferenz der Tiere“ von Reinhard Klooss und Holger Tappe primär um den Umweltschutz, das Thema der Zeit (verbunden womöglich mit der Vorstellung, mit den Kriegen sei es ja nun vielleicht vorbei, jedenfalls in unserer Nähe). Der erste am Computer in 3D animierte Spielfilm aus Deutschland fällt dann allerdings weniger durch Eigensinn und Originalität auf als durch eine ziemlich zahnlose Botschaft, ein Feuerwerk an Action, wenig Substanz und Figuren, die allzu sehr US-amerikanischen Produktionen nachgeahmt erscheinen.

„Die Konferenz der Tiere“ wurde 1969 als schräger Zeichentrickfilm erstverfilmt (© Gloria)
„Die Konferenz der Tiere“ wurde 1969 als schräger Zeichentrickfilm erstverfilmt (© Gloria)

Irgendwo zwischen diesen zwei Polen leben die Kästner-Kinderfilme: hier künstlerisch eigenwillig und politisch scharf, dort nahe am vermeintlichen Massengeschmack und inhaltlich ausgehöhlt. Man muss das gar nicht unbedingt abstrakt an der Frage aufhängen, ob ein Film den nur vage definierbaren „Geist“ Kästners einfange, oft genug reicht die Frage: Geht es wirklich um die Kinder? Um deren Welt und deren Blick?


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Zwillinge gibt es überall

Das am meisten verfilmte Kinderbuch von Kästner ist wohl „Das doppelte Lottchen“, ebenfalls 1949 veröffentlicht und ursprünglich einmal als Filmdrehbuch geplant – prompt wurde der Stoff gleich 1950 in Deutschland (unter Kästners Beteiligung) verfilmt, und innerhalb von drei Jahren dann auch noch in Japan und Großbritannien.

Das Grundmotiv der getrennten Zwillingskinder, die sich wiederfinden und kurzerhand das Zuhause tauschen, um die Eltern wieder zusammenzubringen – dieses Grundmotiv scheint international immer wieder zu funktionieren. Es gibt mehrere Verfilmungen (und Fortsetzungen) aus den USA, aus Schweden, Polen und natürlich Deutschland; weltweit am besten bekannt ist wahrscheinlich das amerikanische Disney-Remake „The Parent Trap“ („Ein Zwilling kommt selten allein“) aus dem Jahr 1998, in dem Komödien-Spezialistin Nancy Meyers in ihrem Regie-Debüt Dennis Quaid und Natasha Richardson als getrennte Eltern aufeinanderprallen lässt. Lindsay Lohan begann in diesem Film als beide Töchter ihre Karriere als Disney-Kinderstar.

Um die Mädchen geht es gleichwohl nur teilweise, die Liebesbeziehung der Eltern rutscht schon leichter in den Vordergrund, und natürlich spielt der Film in der Gegenwart der späten 1990er-Jahre.

Besonders „Das doppelte Lottchen“ ist auch in den USA beliebt, hier mit der doppelten Lindsay Lohan als „Ein Zwilling kommt selten allein“ (© Buena Vista)
Besonders „Das doppelte Lottchen“ ist auch in den USA beliebt, hier mit der doppelten Lindsay Lohan als „Ein Zwilling kommt selten allein“ (© Buena Vista)


Kästner ist immer in der Gegenwart

Wer Kästner verfilmt, das scheint eine so ungeschriebene wie bisher praktisch ungebrochene Regel zu sein, transponiert ihn stets in seine eigene Gegenwart. Immer wird der Stoff aktualisiert, mehr oder weniger erfolgreich modernisiert und angepasst. Die zentralen Figuren – wie gesagt, Iterationen von Emils, Gustavs und Ponys – bleiben erhalten, verschieben sich aber, tauschen auch mal die Rollen und Eigenschaften.

Am deutlichsten wird das womöglich an den Verfilmungen von „Emil und die Detektive“, Kästners wahrscheinlich bekanntestem (und beliebtestem) Kinderbuch. Die sind zuallererst, den Berliner:innen geht da womöglich das Herz auf, eine Zeitreise durch die Stadt von 1931 bis zuletzt 2001: Stadtbild, Verkehrsmittel, die Menschen auf der Straße. Da werden Topographie und Zustand der Gebäude gezeigt, mal mehr, mal weniger verfremdet.

In Peter Tewksburys US-Verfilmung von 1964 liegen im Nachkriegsberlin noch immer einzelne Gebäude in Trümmern, Franziska Buch lässt dann 2001 den Dieb Grundeis im Adlon absteigen, nachdem er vorher im Oberbaum-Eck pausiert hatte, und die Kinder haben ihr Bandenversteck unter einer Brache am Potsdamer Platz. Da ist das noch recht frisch vereinigte, sich neu aufbauende Berlin in jeder Szene sicht- und spürbar.

„Das fliegende Klassenzimmer“ von 2003 verpasst der Schulaufführung eine Frischzellenkur (© Constantin)
„Das fliegende Klassenzimmer“ von 2003 verpasst der Schulaufführung eine Frischzellenkur (© Constantin)

Zugleich sind die Geschlechterrollen angepasst: Pony führt die Bande, Gustav ist als Pastorinnensohn zunächst ein wenig außen vor, Emils alleinerziehender Vater ist arbeitslos im Osten, die Mutter mit neuem Freund in Kanada. Der Filmpädagoge Christian Exner hat vor ein paar Jahren im Deutschlandfunk Kultur darauf hingewiesen, dass in den Kästner-Verfilmungen um das Jahr 2000 herum (er spricht nach der Produzentin der Filme von der „Uschi-Reich-Trilogie“) die deutsche Teilung und die Geschichte der DDR expliziter thematisiert wurde, als dies vorher im deutschen Kinderfilm der Fall war – auch in „Das fliegende Klassenzimmer“ von 2003, das gleich ganz nach Leipzig umgezogen wurde, spielt das eine große Rolle.


Der genaue Blick auf Kind und Zeit

Bei diesen Verfilmungen geht dafür womöglich der genaue Blick etwas verloren, den Erich Kästner auf seine Protagonist:innen und deren Lebensumstände warf. Orientiert an den Grundgedanken der Neuen Sachlichkeit leben die Bücher vom Versuch, mit einfachen Worten und großer Klarheit zu beschreiben, was ist – und dabei die soziale Realität im Leben der Figuren sichtbar zu machen.

Das kann und muss im Film natürlich nicht gleichermaßen funktionieren oder versucht werden. Exner preist die von ihm etwas ironisch als „Trilogie“ beschriebenen Filme auch dafür, dass sie es auf einmal zur Jahrtausendwende möglich erscheinen ließen, dass auch Kinderfilme im deutschen Kino wirklich erfolgreich sein könnten.

Die Kästner-Verfilmungen sind dementsprechend geradezu Musterbeispiele für die zahlreichen Kinderbuch-Verfilmungen, die in Deutschland (und nicht nur hier) produziert werden – und musterhaft auch darin, dass sich an ihnen ausbuchstabieren ließe, was zu einer jeweiligen Zeit gerade als wichtig und richtig für Kinder- und Familienfilme gesehen wird. Wenn etwa zur Jahrtausendwende flotte Musik den Sprechgesang (um es nicht unbedingt Rap oder Hiphop nennen zu wollen) unterlegt und die Kinder synchron scheinbar spontane Tanzmoves auf den Asphalt legen, dann ist das natürlich wenig Kästner und viel Vermutung über die Publikumserwartung.

Erich Kästner (© IMAGO / Allstar)
Erich Kästner (© IMAGO / Allstar)

Ein klarerer Erbe von Kästners Erzählhaltung scheint da schon der Roman „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ (2008) von Andreas Steinhöfel (der nicht umsonst 2009 den Erich-Kästner-Preis für Literatur erhielt), der die Perspektive der Kinder einnimmt, ihr soziales Umfeld aufmerksam beobachtet und genau beschreibt – das zieht sich auch bis in Neele Leana Vollmars Verfilmung hinein.


Der Unterricht wird zum Lokalkolorit

Wenn jetzt „Das fliegende Klassenzimmer“ neu in die Kinos kommt, hat es reichlich historischen Ballast an Bord. Das Buch wurde 1933 veröffentlicht, als Kästners Bücher (wohlgemerkt mit Ausnahme von „Emil und die Detektive“) noch nicht als „wider den deutschen Geist“ verurteilt und verbrannt wurden. Und natürlich darf man den gern genutzten Ausspruch „An allem Unfug, der geschieht, sind nicht nur die schuld, die ihn begehen, sondern auch diejenigen, die ihn nicht verhindern“ als Kommentar zur Zeit lesen.

Kästner taucht dann 1954 in der Rahmenhandlung der ersten Verfilmung noch selbst als Erzähler auf, 1973 fliegt Joachim Fuchsberger mit seiner Schulklasse am Ende sogar wirklich nach Mombasa – der Film beginnt und endet mit schönen Aufnahmen von fliegenden Lufthansa-Maschinen. Und natürlich muss der Nichtraucher schließlich unter die Haube und in neue Arbeit, denn ledige Müßiggänger sind kein gutes Vorbild für die Kinder. Das waren Zeiten!

Es waren auch Zeiten, in denen Internate womöglich noch nicht so sehr als eher seltsame Kuriosität galten wie heute – Franziska Buch verlegte die Handlung 2003 dann ja nicht nur nach Leipzig, sondern vor allem ins Internat des Thomanerchors. In der Gegenwart von 2023 wirkt das Internat oben in den Bergen ähnlich aus der Zeit gefallen wie in vergleichbaren Szenarien à la „Burg Schreckenstein“.

Natürlich hat sich viel getan, das ist gut und richtig: Die Hauptfigur im neuen „Fliegenden Klassenzimmer“ ist Martina, die aus der ganz großen Stadt kommt (da lebt man, so scheint es, finanziell prekär – ohne den Stadt-Land-Kontrast kommen Internatsfilme in den letzten Jahren nicht aus), ihr zur Seite steht nicht mehr Johnny, sondern das Mädchen Joe, und Matz will eigentlich nicht mehr Boxer werden, nur das Trainieren gefällt ihm – und beim Kampf mit den Externen unterliegt er ohne großen Kampf einem groß gewachsenen Mädchen. Die Grundzüge der Geschichte tragen gleichwohl immer noch – es holpert und knirscht immer dann, wenn die Filmemacherinnen sich nicht entschlossen genug trauen, die Gegenwart wirklich hineinzulassen in den Film, oder diese eben nicht genau genug anschauen.

2023 ist „Das fliegende Klassenzimmer“ weiblicher und allgemein diverser aufgestellt als früher (© Leonine)
2023 ist „Das fliegende Klassenzimmer“ diverser aufgestellt als früher (© Leonine)

Vielleicht müssen die Filme heute auch gar nicht so offensichtlich belehrend sein, wie Kästners Erzählerstimme es zuweilen ist. Vielleicht muss man nicht alles mehrfach ausbuchstabieren, und vielleicht darf es auch etwas weniger brave Bürgerlichkeit sein als in den Filmen der letzten siebzig Jahre.

Kästners Geschichten, vor allem seine Themen, vertragen es leicht, in die Gegenwart getragen zu werden, so viel sich auch seitdem verändert haben mag. Man darf aber auch dem Publikum, dem jungen zumal, mindestens so viel zutrauen, wie Erich Kästner es den Kindern schon immer zugetraut hat. Im Frohen wie im Traurigen: „Wie kann ein erwachsener Mensch seine Jugend nur so vollkommen vergessen, dass er eines Tages überhaupt nicht mehr weiß, wie traurig und unglücklich Kinder bisweilen sein können?“

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