© Neue Visionen (Artwork zu "Die Theorie von allem")

Die Logik des Kino-Traumwandelns - Timm Kröger

Wie kann man anders und doch klassisch gute Filme machen? Ein Porträt des Regisseurs Timm Kröger

Veröffentlicht am
21. November 2023
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Mit „Die Theorie von allem“ lief 2023 endlich mal wieder ein deutscher Film im Wettbewerb von Venedig – und zwar einer, der es in sich hat: Regisseur Timm Kröger legte mit dieser in Schwarz-weiß gedrehten Mystery-Geschichte über seltsame Begebenheiten bei einem Physiker-Kongress in den Graubündner Alpen des Jahres 1962 einen der außergewöhnlichsten Beiträge des Festivals vor und ist nun der deutsche Regie-Shooting-Star der Stunde. Ein Porträt.


Venedig, Anfang September 2023. Ein junger Mann, schlank und sehr groß, steht am frühen Sonntagnachmittag am Lido, direkt vor dem weißgetünchten Palazzo del Cinema. Timm Kröger trägt Smoking mit Fliege, schwitzt trotzdem kaum im gleißenden Sonnenlicht. Neben ihm steht der 76-jährige Hanns Zischler, der sich daran erinnert, wie oft er schon mit einem Film im Wettbewerb von Venedig war, und die Umstehenden über den neuen Film der italienischen Regierebellin Liliana Cavani ausfragt. Auf der anderen Seite, ebenfalls im Smoking, steht der 27-jährige Jan Bülow, ein Theaterstar, aber im Kino ein weitgehend unbeschriebenes Blatt – nun ist auch er zum ersten Mal im Wettbewerb um den Goldenen Löwen vertreten.

Premiere in Venedig:
Premiere in Venedig: Timm Kröger (der Große in der Mitte) und seine Crew (© imago/Alberto Terenghi)

Wenige Minuten später laufen alle drei mit dem Rest des 40-köpfigen Teams über den Roten Teppich und erleben die Premiere ihres Films "Die Theorie von Allem", des deutschen Films im Wettbewerb der 80. "Mostra di Cinema". Nach der Vorstellung gibt es elfminütige Standing Ovations – einen Preis gewann der Film am Ende zwar nicht, aber viel Anerkennung, sowie Einladungen und Verkäufe in die ganze Welt.


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Szenenwechsel: Neun Jahre zuvor, 2014, war Timm Kröger bereits einmal in Venedig bei den Filmfestspielen. In der renommierten Kritikerwoche lief Krögers Erstling "Zerrumpelt Herz" – ein erstaunlicher Erfolg, nicht nur, weil es kaum je vorkommt, dass ein deutscher Debütfilm zum zweitwichtigsten Filmfestival der Welt eingeladen wird, sondern vor allem, weil Kröger nicht die üblichen Branchenbataillone hinter sich hatte: Der Film war zwar sein Abschlussfilm an der Baden-Württembergischen Filmakademie Ludwigsburg, wurde aber mit kaum Geld – von gerademal 10.000 Euro kann man weder Produktionskosten noch angemessene Gagen zahlen – unter Selbstausbeutungsbedingungen fertiggestellt; ohne beteiligte Fernsehsender und ohne Filmförderung – was einmal mehr die systemische Schwäche von Fördergremien belegt, die im Einerlei die Ausnahme und das Besondere nur als Störfaktor und Ungefälliges wahrnehmen und daher dieses Regie-Ausnahmetalent schlicht übersehen hatten. Systemisch ist auch die Unfähigkeit der nachträglichen Korrektur einmal geschehener Fehler: Ohne die Förder-Beteiligung gibt es auch keine Verleihförderung, und so gelang dem Film trotz Venedig und anderer Festival-Erfolge kein Kinostart.

Dabei zeigte sich Kröger schon in seinem Erstling als ein eigenwilliger Filmemacher, der genau weiß, was er will – und was nicht. "Zerrumpelt Herz" erzählt von drei Bildungsbürgern im Wald der späten 1920er-Jahre und verbindet spätromantische Musik mit dem Bild einer immer undurchschaubareren, immer geheimnisvolleren Welt. Das Ergebnis ist eine „Gothic Novel“ aus der Vorgeschichte des Nationalsozialismus, dessen Vorzeichen sich aufs Subtilste durch den Film ziehen - in Kleidung, Gesten, Sprache, Themen - und den der Film zugleich ins Surreale wendet. Wie eine Kurzgeschichte von E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allen Poe, in der Filmsprache von Michelangelo Antonioni. Bei den italienischen Filmkritikern machte "Zerrumpelt Herz" Furore, sie sogen diesen Film auf, sahen darin die Mythen der Heimat von "Doktor Faustus", das Land der Dichter und Denker.

"Zerrumpelt Herz" (© Roland Stuprich / Filmakademie Baden-Württemberg)
"Zerrumpelt Herz" (© Roland Stuprich / Filmakademie Baden-Württemberg)

Bereits zur gleichen Zeit erzählte Kröger von seiner Idee einer "Trilogie zum deutschen 20. Jahrhundert" und ergänzte, er plane einen Film über Physiker während der Kuba-Krise 1962. "Ich habe das Gefühl, die Vergangenheit spricht bis heute mit uns." Es gebe "unverdaute Geister" der Historie zuhauf. Und zugleich trotz aller Filme über vergangene Zeiten keinen Sinn für das eigentlich Historische: "Was mich oft stört, ist, dass bei uns eine falsche Vorstellung darüber herrscht, wie Menschen früher gedacht haben und wie sie geredet und gefühlt haben."


Hogwarts für Filmemacher

Nicht das Kino als Traumfabrik, aber als Medium traumwandlerischer Fortbewegung interessiert ihn. "Ich habe versucht, ein bisschen traumwandlerisch Bilder zu machen." sagt Kröger über seine Arbeit, um das Unerklärbare, Instinktive in Worte zu fassen.

Timm Kröger (© Neue Visionen/Heike Blenk)
Timm Kröger (© Neue Visionen/Heike Blenk)

Seit 2008 studierte der 1985 geborene Kröger in Ludwigsburg. Zuvor hatte der auf dem norddeutschen Land aufgewachsene Nachwuchsfilmer bereits als Kind im Spielberg-Stil mit Lego-Steinen Kurzfilme gedreht, die er mit zwei VHS-Recordern schnitt. Es folgten zwei Jahre auf dem dänischen "European Film College", wo Studenten aus aller Welt Film studieren: "Das war Hogwarts für Filmemacher", erzählt er heute, "eine herrliche achtmonatige Film-Parforce-Tour, bei der man zwei, drei Filme am Tag guckt und selber am Wochenende Filme dreht. Bis heute zehre ich davon. Das war eine 'Immersionskultur' im Film, wie ich sie in Ludwigsburg nicht mehr erleben konnte, weil dort das Programm viel zu praxisorientiert ist." Das Gute an Ludwigsburg sei dagegen, "dass man in Ruhe gelassen wird, seinen eigenen Passionen überlassen."

Ursprünglich wollte Kröger Mathematik, Informatik und Philosophie studieren. Oder Musik. In Ludwigsburg studierte er dann zuerst in der Kameraklasse, bevor er zur Regie wechselte. Nach wie vor aber sei er eher ein "Kamera- und Bild-Regisseur", als ein Drehbuch-Regisseur, sagt Kröger.

"Ich hatte früh den Berufstraum, 'Filmemacher' zu werden. Dann gab es so eine Phase, wo ich dachte, ich werde eher ein Kameramann sein - was ich ja auch immer wieder mal bin. Weil mir die Bescheidenheit, die darin liegt, mehr zusagt." Tatsächlich arbeitet Kröger regelmäßig als Kameramann für Kollegen, insbesondere für seine Lebensgefährtin, die Regisseurin Sandra Wollner. "Ich bin ein sehr introvertierter Mensch" erläutert Kröger, "ich hatte das Gefühl, man kann leichter ein introvertierter Kameramensch sein als ein introvertierter Filmemacher. Ich vermute, die Tatsache, dass ich sehr lange brauche, um einen Film zu machen, hat auch etwas damit zu tun, dass ich eher zurückhaltend bin."


In möglichst alle Prozesse des Filmemachens involviert

Kröger liebt es auch, sich alle möglichen Prozesse, die zum Filmemachen gehören, selbst anzueignen. Ohne ein "Kontrollfreak" zu sein, ist er "in manchen Dingen" sehr gründlich: "Ich mache zum Beispiel die Postproduktion fast allein, nicht das Tondepartment, aber das Bild." Das sei auch gewachsen "durch einen Autodidaktismus" – bei dem man sich selbst beibringt, wie man einen Film herstellt. "Es würde mich nervös machen, diese alchemistischen Prozesse, die dazugehören, selbst nicht zu beherrschen, sondern immer auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Das ist erstens teuer, und zweitens hat man es da immer mit Leuten zu tun, die einem auch kreativ die Entscheidungen abnehmen – was man gar nicht möchte."

Zauberberg: "Die Theorie von allem" (© Neue Visionen Filmverleih)
Zauberberg: "Die Theorie von allem" (© Neue Visionen Filmverleih)

An der Filmakademie entstand bereits 2012 "Das leicht beunruhigende Schaukeln der Dinge", ein sehr besonderer dokumentarischer Essayfilm, der bereits vieles besitzt, was Krögers zwei Spielfilme auszeichnet: Die Eigenwilligkeit, das Interesse für ernste Musik und deutsche Vergangenheit.

Fast alle diese Einflüsse merkt man "Der Theorie von Allem" jetzt an, Krögers zweitem Spielfilm.


Ludwigsburger Gruppe

Szenenwechsel: Eine Wohnung in Berlin-Neukölln, im August 2023. Auch Timm Kröger ist Wahlberliner – wie so viele deutsche Filmemacher seiner Generation. Auch aus finanziellen Gründen, und weil die kosmopolitische Metropole, in der der Austausch zwischen Verschiedenem und die Fähigkeit, genau und vorurteilslos hinzuschauen, hier Normalzustand und für junge Leute attraktiv sind, nicht nur für Künstler.

Hier lebt Kröger zusammen mit Sandra Wollner, die auch in Ludwigsburg studierte und auch erfolgreiche Regisseurin ist; ihr Film "The Trouble with Being Born" gewann 2020 bei der Berlinale einen Preis. Kröger führte da die Kamera; im Gegenzug arbeitete Wollner in seinem neuen Film intensiv als Dramaturgin auch während des Drehs mit. "Ich will es jetzt nicht Co Regie nennen", sagt Kröger, "aber ich brauchte sie, um über Schauspiel zu diskutieren, ich bin auf einen zweiten Blick angewiesen. Sie war mir eine riesige Hilfe."

Bei "The Trouble of Being Born" von Sandra Wollner führte Kröger die Kamera (© eksystent distribution)
Bei "The Trouble of Being Born" von Sandra Wollner führte Kröger die Kamera (© eksystent distribution)

Auch andere ehemalige Ludwigsburger Studenten gehören zum Team. Man kann von einer regelrechten Ludwigsburger Gruppe reden, die gemeinsam in wechselnden Funktionen Filme macht: Außer Kröger und Wollner gehören dazu die Produzentin Viktoria Stolpe, der Drehbuchautor und Regisseur Roderick Warich, der Kameramann Roland Stuprich und ein halbes Dutzend Leute mehr.


Filme als philosophische Projektionsflächen

Kröger ist ein Mensch, der sehr viel über das Kino nachdenkt. Dieses Nachdenken ist selten ein Technisches; eher geht es um eine Haltung zur Welt und um einen eigenen Ort zwischen Glaube und Zweifel, Skepsis und Esoterik. "Ich glaube ich habe so eine angeborene Empfänglichkeit für Schicksal, finde das aber gleichzeitig albern. Denn wir sind natürlich materialistisch erzogen und es ist möglich, dass wir in einem chaotischen Universum existieren, in einer Welt, der wir völlig egal sind. An diesem Abgrund schreitet der neue Film entlang, würde ich sagen." Für ihn seien Filme "privat und kollektiv philosophische Projektionsflächen. Man kann über sie nachdenken und nachfühlen. Man kann das auch schrecklich finden. Aber was ich nicht mag sind Filme, in denen das gar nicht vorkommt."

In wenigen Minuten kommt man mit Kröger im Gespräch auf Edgar Reitz‘ "Die zweite Heimat" und dann über "Matrix" ("Ich glaube, dass dieser Film uns ruiniert hat."), auf fehlende Utopien und die "Generation Y", der Kröger angehört, die klassischen "Millenials", die für vieles ein bisschen zu spät kamen und für anderes zu früh.

Die Ideen zu seinem zweiten Spielfilm speisten sich aus dem Kino der Nachkriegszeit: "Ich wollte immer ganz klassisch erzählen, und in dem Sinn an Hitchcock orientiert, dass eine Figur aus ihrer Welt herausgerissen wird und wir ihr folgen. Ich habe das Gefühl, ich kenne diese Zeit: diese Nachkriegsmoderne, dieses komische Spießige in Deutschland. Das ist eine Welt, mit der ich vertraut bin und zu der ich Vertrauen habe."

Nachkriegs-Noir; "Die Theorie von allem" (© Neue Visionen Filmverleih)
Nachkriegs-Noir: "Die Theorie von allem" (© Neue Visionen Filmverleih)

So sind Krögers Filme immer auch Mittel zum Nachdenken der Gesellschaft über sich selbst, anspruchsvoll und ernst, zugleich mit dem Anspruch, eingängig und vergnüglich zu sein. Seine ersten Filme hängen sehr klar zusammen, setzen einander fort und stehen doch jeder für sich. Was sie verbindet, so glaubt Kröger, sei "eine hoffentlich ambivalente Haltung zur Schicksalsfrage – auch wenn das nicht auf der Oberfläche passiert und niemanden interessiert. Also zur Frage: Befinden wir uns in einer sinnhaften Welt? In der unsere Handlungen jeweils von größeren Kräften geleitet sind – Gott oder die Geschichte, oder die menschliche Natur oder die biologische Natur oder an irgendwie geartetes Wesen der Dinge –, oder eben nicht. Ich habe das Gefühl, unsere westliche Welt hat keine fertige Antwort darauf. Wir leben in einer spirituell total schizophrenen Zeit."


Nouvelle-Vague-Momente

Noch sehr viel darf man von diesem Regisseur vertrauensvoll erwarten, der der Kinozukunft optimistisch entgegenblickt: "Ich glaube, was Kino antreibt, wird immer existieren. Und was die KI mit uns anrichten wird, wissen wir noch nicht. Schon als ich anfing, Film zu studieren, war mir klar dass die Art, wie man damals Filme erzählt hat, abgelöst werden wird und transponiert werden muss. Wir sind gerade im Dampfmaschinenzeitalter der virtuellen Welt. Aber irgendwann wird es ein Kino geben, das unsere Synapsen direkt angreift, das interaktiv ist, das aber immer noch mit Kino zu tun haben wird."

Am Ende von "Die Theorie von allem" schreibt sich Kröger dann auf sehr originelle Weise in die deutsche Kinogeschichte ein, wie in die des europäischen Autorenfilms. Das Publikum hört einen Off-Text, der die Geschichte des Protagonisten in einer möglichen Weise weitererzählt und der von dem Regisseur Dominik Graf gesprochen wird. "Ich halte Dominik für einen der besten Sprecher, den ich in Deutschland kenne. Und er bringt in seiner Stimme auch einen denkhistorischen Ballast mit, der dem Film nutzt." Zugleich aber ist dies auch eine Art Nouvelle-Vague-Moment, ein Truffaut-Echo in einer spezifisch deutschen Version.

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