© arte/Shochiku Co., Ltd. (Chishu Ryu & Daisuke Kato)

Filmklassiker: „Ein Herbstnachmittag“

In seinem letzten Film „Ein Herbstnachmittag“ (1962) widmet sich Yasujiro Ozu erneut seinem Generalthema des japanischen Familienlebens – unter dem Vorzeichen der Moderne.

Veröffentlicht am
01. Dezember 2023
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Neben den Filmen von Akira Kurosawa war es insbesondere das Werk von Yasujiro Ozu, das dem japanischen Kino ab den 1950er-Jahren zur Weltgeltung verhalf. In der arte-Mediathek ist im Rahmen einer kleinen Ozu-Werkschau derzeit auch der Film „Ein Herbstnachmittag“ (1962) zu sehen, mit dem Ozu seinen Ruf als Chronist des japanischen Familienlebens – und dessen fortwährender Veränderung - einmal mehr unterstrich.


Das Lied solle sie spielen, sagt Yoshitarō (Daisuke Kato) zu der Frau hinter der Theke. Sie weiß sofort, was gemeint ist. „Das Lied“ wird offensichtlich öfter gewünscht. Gleich darauf erklingt in der Bar ein Militärmarsch. Der Mann hebt seine Hand zum militärischen Gruß an die Stirn und beginnt, an der Theke auf und ab zu marschieren. Auch ein anderer Gast, Shūhei (Chishū Ryū), hebt die Hand an die Stirn. Die beiden Männer haben einst im Pazifikkrieg gemeinsam auf einem Kriegsschiff gedient, Shūhei als Kapitän, Yoshitarō als einfacher Soldat.

Allzu martialisch wirkt die feuchtfröhliche Reminiszenz an die Schlachtfeldvergangenheit allerdings nicht. Yoshitarō ist ein rundlicher, leutseliger Typ, während Chishū Ryū, der Lieblingsschauspieler von Ozu, ein schmaler, zerbrechlich anmutender Mann, besonders fragil wirkt. „Gut, dass wir den Krieg verloren haben“, meint Shūhei, als das Lied zu Ende ist. Yoshitarō, der gerade noch enthusiastisch auf einem imaginären Kriegsschiff marschiert ist, zögert kurz, stimmt dann aber zu: „Stimmt. Die Militaristen können uns nicht mehr auf die Nerven gehen.“


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Nicht alles muss einen gemeinsamen Nenner haben

Nostalgie und nüchterne Kritik stehen in „Ein Herbstnachmittag“ nebeneinander, geraten jedoch nicht miteinander in Konflikt. Die Erinnerung an die Kameradschaft als Teil der japanischen Militärmaschinerie und das Urteil über die totalitäre Politik, der diese Maschinerie diente, werden nicht aufeinander bezogen. Das ist das Schöne an der Demokratie, die sich in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte und zu deren frühen Chronisten Ozu, der als Soldat selbst zwei Jahre lang in China stationiert war, in seinem Nachkriegswerk wird: dass die neue Zeit es den Menschen erlaubt, nicht alles im Leben unter denselben Nenner zu zwingen.

Chishu Ryu als Shuhei (© arte/Shochiku Co., Ltd.)
Chishu Ryu als Shuhei (© arte/Shochiku Co., Ltd.)

Die Kehrseite dieser Freiheit, ein Leben nach eigenen, oft in sich widersprüchlichen Wünsche und Vorstellungen, ist die Vereinzelung. Einst marschierte man tagaus, tagein gemeinsam auf dem Deck des Kriegsschiffes, heute höchstens noch alle paar Wochen einmal nach Feierabend, in diesem Fall dank einer bloßen Zufallsbegegnung im Suff. Zerbrochen ist jedoch nicht nur die faschistische Kriegsgemeinschaft; auch die Familie, das zentrale Thema fast aller Ozu-Filme, gibt immer weniger Halt.

Es ist ein eigenartiger Zufall, dass sich im letzten Film von Yasujiro Ozu so wenig „echte“ Familienszenen finden wie in kaum einem seiner anderen. Der Film, und vermutlich auch seine Hauptfigur Shūhei, halten sich lieber in Kneipen als zuhause auf, bei Besäufnissen und Lästereien im Freundeskreis. Vielleicht zieht Shūhei sogar das Büro vor, wo er mit seinen Kollegen und Sekretärinnen einen vergleichsweise unbeschwerten Umgang pflegt.


Die Zahnräder der Veränderung

In den eigenen vier Wänden sieht er sich dagegen mit einem Problem konfrontiert, dem er nicht lange mehr ausweichen kann. Seitdem seine Frau gestorben ist, führt seine Tochter Michiko (Shima Iwashita) ihm und seinem jüngsten Sohn Kazuo den Haushalt; allerdings ist Michiko längst im heiratsfähigen Alter, und es läge an Shūhei, ihr einen Bräutigam zu suchen. Das allerdings würde bedeuten, dass er im Alter allein leben muss.

Es ist der Anblick eines anderen Mannes, der Shūhei die Dringlichkeit seiner Lage vor Augen führt. Eines Bekannten, der einst vor demselben Problem wie er jetzt stand, und der sich damals entschied, seine Tochter bei sich zu behalten. Heute hasst er sich dafür, während die ledig gebliebene Tochter Tränen der Frustration vergießt. Damit ist für Shūhei die Entscheidung gefallen: lieber gar keine Familie als eine solche.

Mariko Okada als Akiko und Shinichiro Mikami als Kazuo (© arte/Shochiku Co., Ltd.)
Mariko Okada als Akiko und Shinichiro Mikami als Kazuo (© arte/Shochiku Co., Ltd.)

Wie sich in der Folge eine Familie dem Druck der Umstände beugt und der traditionelle Vorrang des Patriarchats dem Willen zur Selbstbestimmung einer neuen Generation weicht, zeigt einmal mehr, dass sich unter der vermeintlichen Seelenruhe der Ozu-Filme die gnadenlosen Zahnräder der Veränderung drehen. Die in starren, wiederkehrenden, sich aufeinander reimenden Einstellungen sich entfaltenden Geschichten erzählen gerade nicht von der ewigen Wiederkehr der Generationen. Vielmehr vollziehen sie wieder und wieder, in unterschiedlichen Variationen und Härtegraden, den Bruch nach, den die Moderne für die traditionelle japanische Sozialstruktur bedeutet. Wie die rotierenden Werbetafeln, die in „Ein Herbstnachmittag“ gelegentlich im Hintergrund zu sehen sind, dreht sich die Welt in den Filmen von Ozu nur in eine Richtung. Die Zeit geht vorwärts, und die Menschen gehen mit, ob sie wollen oder nicht.


Ozu ist kein Fatalist

Ein Fatalist ist Ozu deshalb noch lange nicht. Wenn die traditionelle Familie zerbricht, muss man das nicht betrauern; es ist doch viel angenehmer, amüsiert ihre Scherben zu betrachten. Da ist zum Beispiel der Freund Shūheis, der nach dem Tod seiner Gattin eine junge Frau im Alter seiner Tochter geheiratet hat. Die Trinkkumpanen gönnen ihm den zweiten Frühling, machen sich aber auch über die Belastungen lustig, die die neue Ehe für seine Potenz bedeuten könnte.

Shūheis ältester Sohn Kōichi wiederum ist zwar verheiratet, mit Akiko, aber die beiden haben keine Kinder. Sondern stattdessen einen Sack mit Golfschlägern, um die sich ein ziemlich komischer Ehestreit entspinnt, nachdem Kōichi sie gegen Akikos Willen ins Haus bringt. Kōichi ist von diesen Dingern geradezu besessen; zärtlich streichelt er das Sportgerät, preist bei jeder Gelegenheit dessen Qualitäten und übt Schläge auf den heimischen Sofakissen. Ob die Schläger für die Kinder einstehen, die das Paar nicht hat, oder für eine andere Frau, die zu Akiko in Konkurrenz treten könnte? So viel Zuwendung wie diese Golfschläger erhält in „Ein Herbstnachmittag“ jedenfalls kaum ein Mensch.

Und was wird aus Shūhei? Die Besitzerin einer Bar, die er gelegentlich frequentiert, sieht seiner verstorbenen Frau ähnlich. Ein bisschen, zumindest ihre untere Gesichtshälfte, aus einem bestimmten Winkel. Ein Hauch von Vertrautheit, von familiärer Intimität. Das muss reichen.


Hinweis

Ein Herbstnachmittag. Japan 1962. Regie: Yasujiro Ozu. Mit Chishû Ryû, Shima Iwashita, Shinichiro Mikami, Keiji Sada, Teruo Yoshida. Bis zum 29.4.2024 steht der Film in der arte-Mediathek zum Streamen bereit.

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