© StudioCanal (aus "Der lange Abschied")

Filmklassiker: Filme von Kira Muratowa

Über zwei Filme der ukrainischen Filmemacherin Kira Muratowa aus den späten 1960ern und frühen 1970ern, "Kurze Begegnungen" und "Der lange Abschied"

Veröffentlicht am
12. März 2024
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Das Frühwerk der ukrainischen Filmemacherin Kira Muratowa mit den beiden Filmen „Kurze Begegnungen“ und „Der lange Abschied“ von 1967 und 1971 ist seit Herbst 2023 in Deutschland in einer gut ausgestatteten „Kira Muratowa Edition“ (Anbieter: StudioCanal) verfügbar; ab 9. Februar 2024 läuft „Kurze Begegnungen“ außerdem auch beim Streamingdienst MUBI. Die in Deutschland weitgehend unbekannte Regisseurin fiel vor allem durch ihre eigenwillige Bildsprache auf und brach nicht nur stilistisch mit dem „sozialistischen Realismus“. Im Vordergrund ihrer ersten beiden Werke stehen Frauen aus verschiedenen sozialen Schichten, aber auch interessante und vielschichtige Männerfiguren. Muratowa konnte in den Odessa Studios ihre Filme fernab von Moskau zwar drehen, hatte aber mit beiden Werken große Probleme mit der Zensur. Der eher verspielte, leichter zugängliche „Kurze Begegnungen“ zeigt eine Dreiecksgeschichte der besonderen Art. „Der lange Abschied“ beleuchtet das schwierige Verhältnis einer Mutter zu ihrem pubertierenden Sohn.


Kira Muratowa gehörte zu den ungewöhnlichsten Regisseurinnen in der Sowjetunion und wurde im Westen erst zeitgleich mit Glasnost Ende der 1980er-Jahre bekannt. Muratowa kommt 1934 in Soroca, Bessarabien (damals Teil von Rumänien, heute in Moldawien) als Tochter eines Russen und einer Rumänin zur Welt. Beide Eltern sind überzeugte und aktive Kommunisten. Der Vater wird 1941 als Partisan von rumänischen Soldaten erschossen.


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Nach dem Krieg wächst Kira Muratowa mit der Mutter in Bukarest auf, studiert später in Moskau als eine der ersten Frauen an der VGIK Filmhochschule und wird Filmemacherin. Bis 1987 ist sie rumänische Staatsbürgerin, ab 1987 sowjetische; nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird sie Ukrainerin. Alle ihre Filme, auch das umfangreichere Spätwerk, das in der Ukraine entstanden ist, sind russischsprachig.

"Kurze Begegnungen" (© Studiocanal)
"Kurze Begegnungen" (© StudioCanal)

Ihr erstes Jobangebot erhält sie in der UdSSR vom Studio Odessa in der Ukrainischen SSR. Ihr erster Spielfilm „Kurze Begegnungen“ von 1967 ist gleich ein Paukenschlag. Muratowa selbst spielt die Hauptrolle der Valentina, die als Wasserinspektorin für die Stadtverwaltung in Odessa arbeitet. Ihr Mann Maxim ist Geologe und oft unterwegs. Verkörpert wird er vom Sänger und Schauspieler Wladimir Wyssozki, dem späteren Ehemann von Marina Vlady und wohl populärsten Sänger der Sowjetunion, der ein echter Star war. Bei einer seiner Dienstreisen verliebt sich Nadja, eine junge Verkäuferin und Dorfbewohnerin, in Maxim. Sie sucht ihn in der Stadt auf und trifft dort auf Valentina.


Fast eine Antithese des sozialistischen Realismus

Wenn „Kurze Begegnungen“ nun zeitweilig auf MUBI unter der Rubrik „Dreiecksgeschichten“ gezeigt wird, führt dieses Label ein wenig in die Irre. Der Film handelt von zwei Frauen, die beide in denselben Mann verliebt sind und die sich auf Grund eines Missverständnisses kennen lernen. Aber es ist schon deshalb nie eine klassische Dreiecksgeschichte oder eine Eifersuchtsstory, weil Valentina nie erfährt, was Nadja für Maxim empfindet. So ist es eher das Porträt zweier ganz unterschiedlicher Frauen oder ein Ehedrama über zwei Liebende, die einfach nicht zusammenleben können.

Dabei wird der sowjetische Alltag sehr treffend gefilmt. Es geht um kleine Betrügereien im Dorfkonsum, wie Frauen über Männer reden oder Pfusch auf dem Bau, wo die Wasserleitungen nie funktionieren. Und so ist „Kurze Begegnungen“ fast eine Antithese des sozialistischen Realismus, der ja die Arbeiterklasse verherrlicht, sie als ideologisch treu und moralisch einwandfrei darstellt. Bei Muratowa dagegen sind die Arbeiter eher Materialisten. Sie wollen sich bereichern, verfügen weder über die viel gepriesene selbstlose sozialistische Arbeitsmoral noch privat über einen wirklichen Wertekanon. Der Geologe Maxim ist eine Mischung aus Arbeiter und Intellektuellem, eine Art fahrender Sänger, der zwei Frauen liebt. Schon das war in der prüden, konservativen Sowjetunion eine Provokation.

"Kurze Begegnungen" (© Studiocanal)
"Kurze Begegnungen" (© StudioCanal)

Auch formal wagt Muratowa schon in ihrem Debüt einen eigenwilligen Stil. Es gibt keine Zentralperspektive, die Quadrierung ist sehr ungewöhnlich. Urplötzliche kurze Rückblenden dienen als Einschübe. Nur in diesen Szenen sieht man den Mann, fast wie in den Projektionen der Frauen. Schön sind die Dialoge, der liebevoll ironische Tonfall zwischen Maxim und Valentina. In der Rolle der Nadja beeindruckt der spätere weibliche Star des sowjetischen Kinos Nina Ruslanowa als bodenständiges Mädel vom Land. Der Film, der in Odessa gedreht wurde, aber vor allem den Kontrast zwischen Altstadt und einem sich im Bau befindlichen Neubauviertel zeigt, lief nur kurz mit wenigen Kopien in der Sowjetunion. Im Westen blieb das Werk völlig unbekannt.


Feier des Sprunghaften

Der zweite Spielfilm der „Kira Muratowa Edition“ ist der 1971 gedrehte „Der lange Abschied“ um eine Entfremdung zwischen einer alleinerziehenden Mutter und ihrem etwa 17- bis 18-jährigen Sohn. Der Film wurde nach Fertigstellung gleich verboten und bis zur Glasnost unter Gorbatschow nie öffentlich aufgeführt. „Lange Abschiede“ ist im Vergleich zu „Kurze Begegnungen“ stilistisch spröder, viel collageartiger, fragmentarischer und locker angelehnt an Filmstile wie die französische Nouvelle Vague oder die tschechoslowakische Neue Welle. Schon der Beginn ist ungewöhnlich. In einem Gewächshaus sprechen Mutter und Sohn miteinander, was aber nicht in klassischer Schuss-Gegenschuss-Montage aufgelöst wird. Im Vordergrund stehen Pflanzen und die Protagonisten erscheinen weit voneinander entfernt, bis eine Kamerafahrt sie zusammenführt. Der Film ist eine Mischung aus Coming-of-Age und dem Porträt einer geschiedenen Frau, die ihren Sohn mit aller Macht vom Vater fernhalten will, der weit entfernt von Odessa in Nowosibirsk wohnt und Archäologe ist.

"Der lange Abschied" (© Studiocanal)
"Der lange Abschied" (© StudioCanal)

Die sprunghafte, oft nicht lineare Handlung besteht aus Szenen, die stilistisch ganz unterschiedlich ausfallen. Besonders schön filmt Muratowa in einer Art Parallelmontage zwei typisch sowjetische Flirts zweier Generationen. Die Mutter sitzt auf einer Veranda und tauscht sich wort- und geistreich mit einem an ihr sichtlich interessierten Mann in ihrem Alter zwischen Ende vierzig und Anfang fünfzig aus. Ihr Sohn beobachtet gleichzeitig ein Mädchen, dass er lange nicht mehr gesehen hat. Die Kamera zoomt dabei immer wieder auf die junge Frau, die studieren möchte, verweilt in ihren Haaren; und in Großaufnahmen sieht man den Wunschtraum des ungeschickten Schweigers, ihr durch die Haare zu fahren, sie zu berühren. Beim Streicheln eines Hundes kommt es dabei zu realen, wirklichen kurzen Berührungen, aber weil der Junge keinen Ton herausbringt, verliert das etwas ältere Mädchen das Interesse.

Im Bonusmaterial beider Filme kommt die Filmhistorikerin Elena Gorfinkel zu Wort, die sich kenntnisreich zur Entstehungsgeschichte äußert. Im Fall von „Der lange Abschied“ wird noch einmal deutlich, dass es einigen Regisseurinnen und Regisseuren in der UdSSR wie später auch Otar Iosseliani oder Sergej Paradschanow zwar durchaus möglich war, Filme an der Zensur vorbei zu drehen, es aber nahezu unmöglich blieb, dass diese Werke dann auch in die sowjetischen Kinos gelangten. Im Fall von „Lange Abschiede“ störten sich die Zensoren an der „unsympathischen Mutter“, aber auch am „dekadenten“ Formalismus. Die Folge des langen Verbots des Filmes war, dass Kira Muratowa erst 1978 ihren dritten Spielfilm drehen durfte.

Es ist spannend, diese ersten beiden Filme der Muratowa nun auf Blu-ray/DVD (wieder) zu entdecken, die trotz ihre Unkonventionalität beide noch sehr „sowjetisch“ sind – In Kontrast zu dem späteren Werk der Filmemacherin, das dann nach 1989 in der Ukraine entstand.

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