Der Fotograf (1998)

Dokumentarfilm | Polen/Frankreich/Deutschland 1998 | 80 (56 TV) Minuten

Regie: Dariusz Jablonski

400 Farbdias, die der Finanzbuchhalter des Ghettos Lodz/Litzmannstadt aufnahm, bilden die Grundlage des Dokumentarfilms, der sich mit der Auflösung des Ghettos, dem Überlebenskampf der Juden und dem Schuldgefühl der Überlebenden auseinander setzt. Indem sie den Alltag des deutschen Offiziers spiegeln und zugleich jedes Leid aussparen, wird die verzerrte Wahrnehmung des Schreibtischtäters deutlich und die Objektivierbarkeit von Bilddokumenten hinterfragbar. In der Konfrontation mit aktuellen Schwarzweißaufnahmen sowie durch Aussagen von Zeitzeugen wird das Grauen hinter den Bildern ebenso deutlich wie die Dramaturgie einer historischen Verlogenheit, die Täter-Opfer-Bilder verwischen möchte. Ein herausragender dokumentarischer Film, geprägt von der Solidarität mit den Opfern. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
FOTOAMATOR
Produktionsland
Polen/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Apple/Canal +/arte/MDR
Regie
Dariusz Jablonski
Buch
Andrzej Bodek · Dariusz Jablonski · Arnold Mostowicz
Kamera
Tomasz Michalowski
Musik
Michal Lorenc
Schnitt
Milenia Fiedler
Länge
80 (56 TV) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Wie kann man historisches Foto- bzw. Filmmaterial, das bei dokumentarischen Annäherungsversuchen an die Wirklichkeit zur Verfügung steht, von fragwürdigen Geschichtsbildern unterscheiden, die je nach vorherrschender Interessenlage oder ideologischer Ausrichtung intentional oder gar propagandistisch eingesetzt wurden? Die Geschichte der Fotografie, um so mehr noch die des Films, ist reich an Zeugnissen aus der Vergangenheit, die zweifellos einen Sachverhalt registrieren und sogar einen gewissen dokumentarischen Wert aufweisen, dennoch aber die Realität verfälschen. 400 farbige AGFA-Dias, hergestellt während des Zweiten Weltkriegs vom Finanzbuchhalter des Ghettos Lodz/Litzmannstadt, Walter Genewein, wurden 1987 in einem Wiener Antiquariat wiedergefunden und offenbaren auf erschreckende Weise dieses Dilemma. Die Aufnahmen zeigen authentische Szenen aus dem Ghetto Lodz und gehören zu den ersten Farbdias der Fotogeschichte. Ein einzigartiges, wertvolles Bildmaterial, das jedoch nicht die grausame Wahrheit über die Vernichtung der Juden enthüllt, sondern sie auf besonders perfide Weise verschleiert. Denn die Auswahl der Bildmotive und die dienstliche Korrespondenz Geneweins demonstrieren seine selektive Wahrnehmung, die das individuelle Leid und die kollektive Hölle des Ghettos ausklammert. Ihm geht es primär darum, die wirtschaftliche Effizienz der Güterproduktion im Ghetto hervorzuheben. Seine einzige Sorge gilt der schlechten Farbqualität der Fotos, die ihn zu einem ausgiebigen Briefwechsel mit der IG Farbenindustrie AGFA veranlaßt. Ein penibler Beamte, für den das Ghetto nicht ein Konzentrationslager ist, sondern „ein für Juden abgeschlossenes Wohngebiet“, und ein begeisterter Fotoamateur, der mit einer bei Hausdurchsuchungen im Ghetto requirierten Movex-Kamera den Alltag in seiner Dienststelle zu fotografieren beginnt und auf diese Weise Dienstpflicht mit privater Passion zu verbinden glaubt. Die Ghetto-Folklore der farbigen Fotos legt seine autosuggestive Überzeugung nahe, in einem „jüdischen Kleinstaat innerhalb der Stadt Litzmannstadt“ Dienst verrichtet zu haben, dessen straffe Organisation bei der Produktion hochwertiger Textilwaren für die Wehrmacht horrende Gewinne ermöglichte.

„Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion. Sie ist das Widerspiel zur echten Mimesis, der verdrängten zutiefst verwandt (...) Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich.“ So schrieben Adorno und Horkheimer zu der Zeit, als der Fotograf Genewein scheinbar ahnungslos eine vermeintlich harmlose (Schein-)Realität für die Nachwelt abbildete. Wie man mit so einem Bildmaterial umgeht, zeigt Dariusz Jablonski, der zu den führenden Filmproduzenten Polens gehört, eindrucksvoll in seinem Dokumentarfilm. Er macht die Dias zur Grundlage einer historischen Rekonstruktion des Lebens im Ghetto, die an Hand von Akten, Briefen und Zeugenaussagen das ernüchternde Bild eines florierenden Wirtschaftsunternehmens entstehen läßt, in dem zynische Pragmatiker wie Genewein akurat und plichtbewußt „nur“ ihrem Beruf nachgingen. Jablonski hatte das Glück, mit Arnold Mostowicz, der als Arzt die Auflösung des Ghettos miterlebte, einen Zeitzeugen zu finden, der glaubwürdig und auf hohem Reflexionsniveau die dramatische Geschichte des Ghettos wiederaufleben lassen kann, wobei die beunruhigende Musik zusätzlich für eine atmosphärische Verdichtung des auch visuell sehr anspruchsvollen Films sorgt. Um die Verlogenheit der quasi-dokumentarischen Diasserie zu entlarven, bedient sich Jablonski zwar eines ästhetisch verblüffend einfachen Kunstgriffs, der aber dramaturgisch kaum seine Wirkung verfehlt: Da die größte Attraktivität der Dias aus dem Ghetto in ihrer Farbigkeit besteht, kontrastiert er diese „Postkarten“-Ansichten mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen von heute, die genau jene Schauplätze zeigen, die Genewein fotografierte. Dank der durch Montage verfremdeten Bilder, die mit den historischen Fotos zur Deckungsgleichheit gebracht werden und die Nicht-Anwesenheit der Holocaust-Opfer vergegenwärtigen, gelingt Jablonski eine erschütternde Vision der Vernichtung jüdischer Bewohner der Stadt, die die wahre Dimension der historischen Realität versinnbildlicht. Diese Kontrastdramaturgie findet ihre suggestive Entsprechung bei der Verwendung des Tonmaterials: Stille der Gegenwartsbilder und Toneffekte, die das der Vernichtung preisgegebene Leben der Ghetto-Bewohner animieren, machen jeden Kommentar überflüssig.

Schwarz-weiß sind auch die Interviewpassagen mit Arnold Mostowicz, dessen Erinnerungen an das Ghetto den Fotos Geneweins gegenübergestellt werden und rückblickend die Welt der verhungernden, bis zur physischen Auslöschung ausgebeuteten Juden Realität werden lassen. „Schwarz-weiße“ Hölle des Ghettos im Gedächtnis eines Holocaust-Überlebenden und retuschierte, selektive Farbdokumente, die die Holocaust-Tragödie unsichtbar machen und durch keine Bilder aus der Sicht der Opfer korrigiert werden können, stehen so im krassen Gegensatz zueinander: Die Überlieferung der Täter und der Opfer macht eine ungeheure Distanz spürbar, die das Erinnern und die diametral unterschiedliche Wahrnehmung von Geschehnissen bestimmt, die zwei Personen zur selben Zeit am selben Ort zusammenführten. Mostowicz, der seit Kriegsende als Publizist und Schriftsteller in Warschau lebt, erweist sich dabei als ein redlicher, in seiner schonungslosen Offenheit sehr scharfsinniger Zeitzeuge. Sein von illusionslosem Lebensrealismus getragener mutiger Bericht ermöglicht eine erstaunlich konkrete Annäherung an die bereits in unzähligen Dokumentationen beleuchtete Wahrheit. Wenn er von der Picknick-Atmosphäre erzählt, die anfänglich unter den Deportierten herrschte, da die Menschen „oftmals die Wahrheit nicht zur Kenntnis nehmen... die Wahrheit nicht wissen wollen“, oder wenn er von einem Vater berichtet, der bei der Liquidierung des Ghettos gegen den Willen seiner Frau mit seinen beiden Kindern freiwillig dem Aufruf folgte, sich zur „Umsiedlung in andere Gebiete“ bei einer Sammelstelle einzufinden, und dem Mostowicz in Auschwitz wiederbegegnete, als seine Frau und die beiden Töchter bereits vergast waren – dann werden die Erinnerungen zu einer unsagbar bestürzenden Entdeckung. Auch der Frage nach individueller Verantwortung weicht Mostowicz, der bis heute moralische Zweifel an der Richtigkeit seines damaligen Handelns hat und von der „Überlebensschuld“ geplagt wird, nicht aus. Die Verstrickung der Opfer in ihre eigene Vernichtung durch die Errichtung der „Judenräte“ spielt dabei eine entscheidende Rolle: Als der Vorsitzende der jüdischen Ghettoverwaltung, Mordechai Chaim Rumkowski, im Glauben, durch die Kooperation mit den deutschen Behörden zumindest das Überleben eines Teils der Ghetto-Insassen zu sichern, die befohlene Deportation aller Kranken, Greise und Kinder vorbereiten wollte, berief er eine Ärzteversammlung ein. Während 90 Prozent der Ärzte sich dafür aussprachen, die Betroffenen in den sicheren Tod zu schicken, um das Leben der von ursprünglich 300.000, nun auf 70.000 geschrumpften Gefangenen zu retten, schwieg Mostowicz, da er in der „konfortablen Situation“ war, „weder Kinder noch ältere oder kranke Verwandte zu haben“. Allen seinen Familienmitgliedern, die vor seinen Augen zugrundegegangen waren, hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits einen Totenschein ausgestellt. Dennoch ergreift er die Partei von Rumkowski, dessen Position stark umstritten ist. Zumal Hannah Arendt in ihrem Aufsatz „Die Tage der Wandlung“ den Verzweiflungsakt Adam Czerniakows, der im Warschauer Ghetto vor eine ähnliche Wahl gestellt, Selbstmord beging, als ein Fanal des jüdischen Widerstands gewürdigt hat. Dank Rumkowskis Taktieren konnte das Ghetto von Lodz am längsten fortbestehen. Wäre Hitler durch das Attentat vom 20. Juli 1944 getötet worden bzw. hätten die Sowjets ihre Offensive an der Weichsel wegen des Warschauer Aufstandes im August 1944 nicht gestoppt, hätten die Ghetto-Insassen, glaubt Mostowicz, gerettet werden können. Die Hoffnung auf ein Wunder hätte sich ausgezahlt.
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