Rosie (1998)

Drama | Belgien 1998 | 96 Minuten

Regie: Patrice Toye

Drama um eine 13-Jährige in einem Antwerpener Randbezirk, die von ihrer überforderten Mutter verleugnet wird und sich in eine aus Groschenromanen gespeiste Fantasiewelt hineinsteigert. Das immer nur herumgestoßene, zurückgesetzte und ausgenutzte Mädchen gelangt an den Punkt, an dem es zurückschlägt: Das ewige Opfer wird zum Täter und verschlimmert dadurch seine Lage nur noch weiter. Hervorragend gespieltes Spielfilmdebüt, das trotz gelegentlicher künstlerischer Schwächen durch die differenzierte Personenzeichnung als wertvoller sozialer Seismograf der westlichen Wohlstandsgesellschaft überzeugt. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
ROSIE
Produktionsland
Belgien
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Prime Time Prod.
Regie
Patrice Toye
Buch
Patrice Toye
Kamera
Richard van Oosterhout
Musik
John Parish
Schnitt
Ludo Troch
Darsteller
Aranka Coppens (Rosie) · Sara De Roo (Irène (Mutter)) · Frank Vercruyssen (Michel (Onkel)) · Dirk Roofthooft (Bernard) · Joost Wijnant (Jimi)
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama

Diskussion
Belgien firmiert als Statthalter des latenten Skandals innerhalb Europas: niemals aufgeklärte Korruptionsfälle und Attentate, Kindesentführungen und -morde mit Spuren bis in höchste gesellschaftliche Kreise, auszehrendes Separationsgerangel zwischen den wallonischen und flandrischen Provinzen. Wohl nicht zufällig benennt Patrice Toye auch ihre Landsleute, die Brüder Dardenne als Vorbilder (neben Kieslowski und Loach), die in ihrem Film „La Promesse“ (fd 32 891) dieses als „Belgische Krankheit“ bezeichnete nationale Trauma bereits auf packende Weise umrissen haben. Vermutlich, um mit ihrem Film nicht unmittelbar mit dem aktuellen Sumpf assoziiert zu werden, hat die flämische Regisseurin die Handlung ins Jahr 1980 zurückdatiert. Die gerade einmal 13-jährige Rosie wird in eine geschlossene Anstalt für jugendliche Straftäter eingewiesen, verweigert zunächst jede Kooperation mit dem Personal. In Rückblenden erfährt man, welche Umstände ihrer Vergangenheit zu welchen Konsequenzen geführt haben; unklar bleibt zunächst, welcher Anlass zur Einlieferung in die Anstalt geführt hat. Sehr schnell wird jedoch klar, dass in diesem Zusammenhang mit dem Schlimmsten gerechnet werden muss. Ort der Handlung ist ein Antwerpener Randbezirk mit maximaler Tristesse-Quote: Personalwohnungen eines längst stillgelegten Großbetriebs, in denen die ratlosen Bewohner auf die nächste Zahlung des Sozialamtes warten, ansonsten alle Utopien längst hinter sich gelassen haben. Rosie darf ihre Mutter nicht Mutter nennen, da diese befürchtet, damit potenzielle Lebenspartner abzuschrecken. Mit 14 Jahren hat sie ihr einziges Kind ausgetragen, nun, da sich dieses im gleichen Alter befindet, scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Rosie „treibt sich herum“, hat viel zu früh einen Liebhaber, der sie zudem in seine kleinkriminellen Machenschaften verstrickt. Als auch noch Michel, der ältere, müßiggängerische Bruder der Mutter auftaucht und den Alltag mit weiteren Untiefen bestückt, eskaliert die Situation. Eine aus Groschenromanen gespeiste Fantasiewelt kollidiert mit der Realität. Die immer nur herumgestoßene, zurückgesetzte, ausgenutzte Rosie gelangt an den Punkt, an dem sie zurückschlägt; das ewige Opfer wird zum Täter, verschlimmert dadurch seine Lage allerdings nur noch weiter.

Patrice Toye hat ihr Spielfilm-Debüt mit viel Zärtlichkeit für die titelgebende Rosie inszeniert; Aranka Coppens in der Hauptrolle bestürzt regelrecht, sie füllt die Figur in ihrer Mischung aus Verletzbarkeit und Renitenz ideal aus. Sara de Roo als Mutter zwischen Liebe und Ablehnung erweist sich als eine ebenso treffende Besetzung. Auch die anderen Personen - selbst Michel als Auslöser der Katastrophe oder John, der windige Liebhaber Rosies - sind differenziert entworfen, werden nie auf ihre negative Funktion reduziert. Es sind diese erzählerischen und darstellerischen Stärken, die zum Gelingen des Films beitragen. Gelegentliche Überzeichnungen (die eher überflüssige Inzest-Ebene) oder auch einige Längen treten dabei in den Hintergrund. Wie in Tim Roths Debüt „The War Zone“ (fd 34 272) wird anhand eines adoleszenten Helden der schlagartige Verlust von Unschuld beschrieben, den die Erwachsenenwelt als Opfer einfordert. In beiden Filmen steigern sich die Ereignisse bis hin zu archaischen Dimensionen, wie sie der Vatermord nun einmal verkörpert. Unabhängig von gelegentlichen künstlerischen Schwächen müssen solche Arbeiten als wertvolle soziale Seismografen der westlichen Wohlstandsgesellschaft gelesen und ernst genommen werden. Sie sagen nichts anderes als: Der Kapitalismus frisst seine Kinder.
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