Kein Science Fiction

Tragikomödie | Deutschland 2003 | 112 Minuten

Regie: Franz Müller

Ein Motivationstrainer und ein Teilnehmer seines Seminars geraten bei der Übung, wie man erfolgreich Türen öffnet, in eine Art Paralleluniversum, das ihrer bisherigen Welt bis auf einen Punkt gleicht: Jedes Mal, wenn eine Tür ins Schloss fällt, haben sie die Menschen dahinter komplett vergessen. Der auf DV gedrehte Abschlussfilm entfaltet mit spröder "Dogma"-Aura und dank des Spielwitzes der Hauptdarsteller einen bezwingenden Charme. Das reizvolle Spiel mit der Möglichkeit, ständig neu anfangen zu können, verkehrt sich über eine skurrile Dreiecksgeschichte in ihr Gegenteil und entpuppt sich als kluge Reflexion über den Selbst- und Weltverlust neoliberaler Positionen. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Kunsthochschule für Medien/film0
Regie
Franz Müller
Buch
Franz Müller
Kamera
Frederik Walker
Musik
Tobias Ellenberg
Schnitt
Franz Müller · Dirk Oetelshoven · Sean Coffey · Barbara Hoffmann
Darsteller
Arved Birnbaum (Jörg) · Jan Henrik Stahlberg (Marius) · Nicole Marischka (Anja) · Heidi Ecks (Barbara) · Thomas Wittmann (Hotelier)
Länge
112 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Tragikomödie
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs und ein Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen.

Verleih DVD
epix (16:9, 1.85:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Der Titel führt in die Irre, obwohl die Handlung durchaus etwas Futuristisches hat, auch wenn die Geschichte in der Gegenwart spielt. In einem Motivationsseminar stellt sich einer der Teilnehmer bei einer Übung so ungeschickt an, dass der Coach mit ihm das Ganze vor der Tür nochmals durchspricht. Es geht darum, wie man bei einem Vorstellungsgespräch den Raum betritt – innerlich gesammelt und vom festen Willen durchdrungen, die Situation zu meistern. Der neuerliche Anlauf, die Prinzipien der „Mental Syntax“ zu beherzigen, funktioniert diesmal allerdings so gut, dass es Schüler wie Trainer regelrecht die Sprache verschlägt: Die energisch aufgestoßene Tür öffnet sich in eine komplett andere Welt; statt ihres Kurses ist dort eine Aktzeichenklasse zugange, die von ihnen keine Kenntnis nimmt. Als Zuschauer ist man nicht weniger verwirrt als Jörg, der wortlos zum Ausgang strebt und nach Hause will; dort aber wartet bereits der nächste Schock; denn in seinen eigenen vier Wänden wohnen wildfremde Menschen; von seiner Familie keine Spur. Die Welt der Dinge wirkt zwar vertraut, doch gibt es darin keinen Platz mehr für Jörg. Der smarte Trainer Marius scheint mit dieser absurden Situation einer Art Parallelwelt besser zurecht zu kommen, hat er doch bald heraus gefunden, dass jedes Mal, wenn eine Tür ins Schloss fällt, ihn die Menschen dahinter komplett vergessen haben. Das weiß er zu nutzen. Fortan bewegt er sich wie in einem Schlaraffenland, anmaßend und arrogant, da ihn niemand zur Rechenschaft ziehen kann, weil die nächste Tür meist nur wenige Schritte weit entfernt ist. Jörg dagegen, ein schüchtern-schwitzender Koloss mit Herz, kann mit seiner neuen Freiheit nicht sonderlich viel anfangen. Beide haben sich in einer Art Notgemeinschaft in einer luxuriösen Hotelsuite einquartiert und streifen ziellos durch die Stadt, wobei Marius immer mehr Gefallen an seiner Rolle als exzentrischer Egomane und Lehrmeister findet. Während Jörg zaghaft versucht, seiner wachsenden Einsamkeit zu entkommen, indem er mit Anja anbandelt, die als Nachtportier arbeitet, schleppt Jörg eine Frau nach der anderen ab, wobei er auch von der Hotelangestellten die Finger nicht lässt. Doch plötzlich scheinen sich die Regeln umzukehren: Nicht nur, dass Jörg sich eifersüchtig abwendet und mit ihm nicht mehr reden will; mit einem Mal kann auch Marius die stille Frau mit den seltsam lächelnden Mundwinkeln nicht mehr vergessen. Doch jeder Versuch, mit ihr näher bekannt zu werden, scheitert am Fluch sich schließender Türen.

„Science Fiction“ funktioniert wie ein Experiment unter zunächst unbekannten Bedingungen: Nur wer sich auf den spröden Charme einer logisch nicht abgesicherten und durchaus sperrigen Handlung einlässt, vermag am Ende deren Ergebnisse zu werten. Dabei könnte der auf DV gedrehte KHM-Abschlussfilm von Franz Müller leicht unters „Dogma“-Schema subsumiert werden, so deutlich lebt die Low-Budget- Produktion vom Improvisationstalent ihrer drei agilen Hauptdarsteller und deren Spielwitz, die die Handlung in konzentrischen Kreisen einer überraschenden Weitung entgegen treiben. Was wie die laienhafte Dokumentation eines verkrampften Fortbildungsseminars beginnt, verwandelt sich auch filmsprachlich zusehends in eine erzählerisch klug strukturierte Reflexion über den Selbst- und Weltverlust neoliberaler Überheblichkeit, die überall nur unverbundene Entitäten am Werke glaubt, die man nach Belieben manipulieren kann. Die Illusion, keine Konsequenzen fürchten zu müssen bzw. jederzeit neu anfangen zu können, verwandelt sich in der immer skurriler werdenden Dreiecksgeschichte ebenso witzig wie nachdrücklich in ihr Gegenteil: in den Wunsch und die Sehnsucht, endlich Spuren hinterlassen zu können, durch die man identifizier- und wiedererkennbar wird. Vor allem dem unaufdringlichen, aber umso nachhaltigeren Spiel von Nicole Marischka ist es dabei zu verdanken, dass die vom Treatment intendierte Verkehrung der Ausgangssituation auch physisch-psychisch spür- und erlebbar wird: Der immer wieder aufs Neue durchlebte Sturz in die Nicht-Erinnerung, wenn eine Tür zugeschlagen wird, spiegelt sich in der Verlorenheit ihrer schmerzhaft-irritierten Blicke, die ins Leere nach Innen gehen, wo noch ungestüme Emotionen toben, ohne dass sich ihre Figur über deren Anlass Rechenschaft geben könnte. Die Lösung, die der Film schließlich findet, ist so einfach und voller Chuzpe wie seine Ausgangsidee, womit jedoch gerade die langwierige Odyssee der Figuren noch einmal ins Recht gesetzt wird: als augenzwinkernde Charade einer „was wäre, wenn“-Geschichte, die mit jeder sich öffnenden Tür an die Unendlichkeit der Möglichkeiten, aber auch an die Chance, nur endlich viele von ihnen ergreifen zu müssen, erinnert.

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