- | USA 2006 | 121 Minuten

Regie: Ryan Murphy

Verfilmung eines autobiografischen Bestsellers über die Kindheit des Autors in den 1970er-Jahren an der Seite einer literarisch erfolglosen Mutter und eines alkoholabhängigen Vaters. Nach der Trennung der Eltern gibt die zunehmend instabiler werdende Mutter den Teenager in die Obhut eines seltsamen Therapeuten, bei dessen verrückter Familie der Junge keine andere Chance hat, als sich zu emanzipieren. Bizarre Coming-of-Age-Geschichte um einen jugendlichen Außenseiter, der in einer exzentrischen Lebenswelt nach seinem eigenen Weg sucht, als souveräne Mischung aus Drama und schwarzer Komödie. Der Film wird von skurrilen Einfällen, der sorgfältigen Kameraarbeit und vor allem den hervorragenden Darstellern getragen, die die Figuren bei aller Überzeichnung nie der Lächerlichkeit preisgeben. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
RUNNING WITH SCISSORS
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Plan B Ent.
Regie
Ryan Murphy
Buch
Ryan Murphy
Kamera
Christopher Baffa
Musik
James S. Levine
Schnitt
Byron Smith
Darsteller
Annette Bening (Deirdre Burroughs) · Brian Cox (Dr. Finch) · Joseph Fiennes (Neil Bookman) · Evan Rachel Wood (Natalie Finch) · Alec Baldwin (Norman Burroughs)
Länge
121 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Sony (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
Jugend kann ein Albtraum sein, insbesondere wenn eine vollauf mit der eigenen Selbstfindung beschäftigte Erwachsenenwelt dem pubertären Kosmos keine Grenzen mehr setzen kann oder will. Der deutsche Titel, der unangenehme Assoziationen an nicht immer geschmackssichere, sich oft selbst parodierende Slapstick-Komödien weckt, könnte hinsichtlich der Filmhandlung nicht unpassender gewählt sein. „Running with Scissors“, wie der Film im Original heißt, ist alles andere als eine leichtfertige Abhandlung über eine zeitgenössische Jugendkultur, die sich über ihren eigenen Sprachjargon zu definieren versucht. Angesiedelt in den gesellschaftlichen Umbrüchen der 1970er-Jahre, schildert die Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers von Augusten Burroughs tragikomisch die Emanzipation aus einer grotesken Kindheit. Die Schriftstellerin Deirdre, eine nach Selbsteinschätzung ebenso talentierte wie verkannte Poetin, führt ihre Erfolglosigkeit auf die fehlende Unterstützung ihres alkoholabhängigen Ehemanns zurück. Währenddessen beginnt ihr sechsjähriger Sohn Augusten, der zerrütteten Ehe seiner Eltern einen Ordnungs- und Reinlichkeitswahn entgegenzusetzen, der im Abkochen und Polieren seines Taschengelds kulminiert. „I like shiny things“, antwortet er auf die Frage seines verwirrten Vaters, auf dessen Gesicht sich schmerzliche Erkenntnis und Resignation bezüglich der verfahrenen familiären Situation abzeichnen. Sechs Jahre später unterziehen sich die Eltern einer Paar-Therapie bei Doktor Finch, der Deirdre mit Valium außer Gefecht setzt, sie zur Erholung in ein Motelzimmer verfrachtet und Augusten in seinem Familienanwesen aufnimmt. Während sich Deirdre ihrer sexuellen Befreiung widmet, beginnt für den Teenager von nun an der wahre Albtraum: Seine Erzeuger liefern ihn einer Familie aus, deren exzentrische Mitglieder die „Royal Tenenbaums“ (fd 35 300) wie die Waltons erscheinen lassen. Der penible Augusten bezieht ein Haus, das bis unters Dach mit Müll und Ramsch angefüllt ist und dem Therapeuten als heimisches Versuchsterrain für seine gewagten Behandlungsmethoden dient, von denen offenbar auch seine eigene Familie zu viel genoss. So wird Augusten gleich von der frühreifen Tochter Natalie an eine veraltete Elektroschock-Apparatur angeschlossen; während Schwester Hope ihrer Katze Sterbehilfe beim vermeintlich ersehnten Freitod leistet und sich die neurotische Mrs. Finch mit dem ununterbrochenen Konsum alter Gruselfilme selbst therapiert. In der hochkarätig besetzten Filmfamilie (u.a. Gwyneth Paltrow als stoisch-fromme Hope, Brian Cox als irrer Psychiater Finch, Joseph Fiennes als homosexueller Adoptivsohn Neil) brillieren vor allem Alec Baldwin als resignierender Familienvater und Annette Bening als „Rabenmutter“ Deirdre, deren Egozentrik wie die Fortführung des Lebensentwurfs der unzufriedenen Ehefrau aus „American Beauty“ (fd 34 066) anmutet. Der Fokus auf Deirdres psychische Probleme, die den Handlungsverlauf initiieren und gestalten, wird zudem von der Kamera unterstrichen, die entsprechend dem Sujet die Köpfe der Protagonisten in optische Rahmen rückt. So wird Deirdres Gesicht während der Besichtigung von Dr. Finchs „Masturbatorium“ – seinem Entspannungsraum – zwischen den an der Wand hängenden Porträtfotos von Königin Elizabeth und Golda Meir positioniert. Die mentale Gefangenheit Deirdres, die ihren Erfolg als Poetin zunehmend imaginiert, äußert sich auch in der Enge der Innenräume, in denen sie ausschließlich agiert. Augusten hingegen bricht sich wortwörtlich durch die Decke seines beengenden Zwangszuhauses in eine neue, selbstbestimmte Daseinsform. Dabei besticht insbesondere die visuelle Ebene, die sich von den bunten Kindheitsszenen Augustens mit dessen Einzug bei den Finchs in einen düsteren Gegenentwurf zum medial überpräsenten Bild der amerikanischen Flower-Power-Ära wandelt. Obwohl sich im letzten Drittel die überzeichneten Finch-Skurrilitäten ein wenig abnutzen, wird man immer wieder durch diese Kameraarbeit, die die Handlung so abwechslungsreich spiegelt, bei der Stange gehalten. Regisseur Ryan Murphy hat sich mit der provokativen schwarzhumorigen Erfolgsserie „Nip/Tuck“ einen Namen gemacht; hier ist ihm ein tragikomischer Coming-of-Age Film gelungen, der ungewöhnlich drastisch zwischen seinen konträren Extremen changiert. Der Abnormität des Finchschen Haushalts und seiner Bewohner werden Szenen von solch tragischer Härte – gleich einem Realitätseinbruch – zwischengeschnitten, dass einem das Lachen sprichwörtlich im Halse stecken bleibt. Insbesondere die sich dramatisch zuspitzende Instabilität Deirdres und die damit verbundene Hilflosigkeit des um ihre Zuneigung kämpfenden Sohns machen den Film zu einer bizarren Mischung aus Drama und schwarzer Komödie. Indem Murphy gesellschaftlich kontroverse Themen wie Drogensucht, Psychosen oder Homosexualität humorvoll, nie aber plakativ darstellt, entgeht der Film dem möglichen Vorwurf, bezüglich der sexuellen und beruflichen „Selbstverwirklichung“ Deirdres auf Kosten ihrer Familie allzu abschätzig und konservativ zu argumentieren.
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