So exzessiv „Gegen die Wand“
(fd 36 389) inszeniert war, der äußerst erfolgreiche erste Teil seiner Trilogie über „Liebe, Tod und Teufel“, so unspektakulär setzt Fatih Akin den zweiten in Szene: „Auf der anderen Seite“ befasst sich sehr besonnen mit dem Tod und dessen Auswirkung auf die Lebenden, mit deren Trauer und Nachdenklichkeit sowie den Versuchen, einmal eingeschlagene Lebenswege zu ändern. Besonnenheit war bei der Umsetzung des komplexen Plots auch notwendig. Sechs Figuren definieren sechs Handlungsstränge, die an sechs unterschiedlichen Punkten ansetzen, sich teilweise kreuzen, parallel verlaufen und sich am Ende sinngebend zu einem großen Ganzen zusammenfügen.
Nejat ist ein zurückgezogen lebender Germanistikprofessor in Hamburg, sein Vater Ali ein verwitweter, einsamer Mann. Als Ali sich eine Prostituierte sucht, trifft er auf Yeter, die ebenfalls aus der Türkei stammt. Er beschließt, ihr Geld dafür zu geben, dass sie mit ihm zusammenlebt. Nejat gefällt das nicht, bis er Yeter näher kennenlernt, die ihrer Tochter Ayten in Istanbul regelmäßig Geld schickt. Als Yeter stirbt, macht sich Nejat auf die Suche nach der Tochter. Diese ist aber längst in Deutschland, eine politische Aktivistin auf der Flucht vor der türkischen Polizei. Sie lernt eine deutsche Studentin kennen und lieben, was wiederum deren Mutter Susanne nicht gutheißt. Durch ein Missgeschick landet Ayten in Abschiebehaft, und so landet sie wieder in der Türkei.
Wie kaum einem zweiten Autor-Regisseur in Deutschland gelingt Fatih Akin eine fesselnde Balance aus Realismus und Künstlichkeit, die sich in den Dialogen ebenso niederschlägt wie in der Dramaturgie. Die Virtuosität, die er dabei zeigt, bringt ihn in der Tat in die Nähe zu Rainer Werner Fassbinder, mit dem man ihn nach der Besetzung von Hanna Schygulla verglichen hat, was Akin selbst von sich weist. Seine Geschichten sind dem Leben entnommen, aber eindeutig zu Kunst geworden. In kurzen Sätzen umreißen die Figuren im Film ihre Lebenssituation, die sich im nächsten Moment bereits ändern kann – in Sätzen, die sowohl nach persönlich Erlebtem wie nach tiefer Wahrheit klingen. Jede einzelne der Episoden ist ebenso brilliant entworfen wie das dramaturgische Netz, das sie insgesamt bilden. Lange bevor die Figuren ahnen, was sie miteinander verbindet, wird der Zuschauer in die Schnittpunkte der Geschichte eingeweiht, Stück für Stück, durch Motive, Andeutungen oder Äußerungen. Die tragischen Höhepunkte werden sogar vorweggenommen: Zwischentitel, die die Episoden einläuten, kündigen an, wer an deren Ende stirbt. Dieses Stilmittel, der frühneuzeitlichen Literatur entlehnt, macht den Zuschauer zum Mitwisser dessen, was Akin die „Weltenseele“ nennt und was sich auch als Schicksal oder „göttliche Hand“ bezeichnen lässt. Gemeinsam sehen so der allwissende Erzähler und das Publikum gelassen dabei zu, wie die Figuren im Film unweigerlich auf ihre Tragödien zusteuern. So groß ihre Anstrengungen auch sind, die sie auf ihrem Weg zum Glücklichsein oder beim Entrinnen aus dem Unglücklichsein auf sich nehmen: Am Ende wird ihr Leben von Zufällen, anderen Menschen und vor allem vom Tod derart beeinflusst, dass all ihr Treiben müßig erscheint. Aber ganz so weit geht Akins Fatalismus dann doch nicht. In den Figuren Nejat und Susanne personifiziert sich die Hoffnung auf Veränderung, auf Liebe, Buße und Vergebung.
Nejat ist die maßgebliche Brücke zwischen den aufeinander prallenden Kulturen, was seit jeher ein zentrales Thema bei Fatih Akin war, dem Kind türkischer Einwanderer. Als türkischstämmiger Germanistikprofessor ist Nejat perfekt assimiliert, später aber ist sein Wunsch, in Istanbul einen deutschen Buchladen zu besitzen, deutlicher Ausdruck der Sehnsucht des Assimilierten nach der zurückgelassenen Heimat. Seine Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Vergebung für den Vater lässt ihn zu einem stillen Helden wachsen, der sich über alle kulturellen oder politischen Grenzen hinwegsetzt. Sein Vater repräsentiert dagegen die erste Generation der Immigranten, die nie wirklich angekommen ist im fremden Land, er ist einer, der fast nur türkisch spricht und sich am liebsten mit Türken umgibt. Yeter wiederum steht für eine zwar angestrebte, aber völlig fehlgeschlagene Eingliederung, für ein Leben unter Maske und Perücke im Souterrain hinter der Barriere des Rotlichtbezirks. Die junge Ayten versucht ihrerseits kaum, sich zu verstecken: Sie geht mit ihrer Berufung, die Heimat zu retten, auch mit Gewalt, offen um – endet allerdings in der Heimatlosigkeit. Deutschland bleibt für sie reiner Zufluchtsort, und die Türkei zeigt sich ihr von ihren schrecklichsten Seiten. Die beiden deutschen Figuren schließlich verdeutlichen, dass sogar EU-Bürger, die das Thema Türkei sonst kalt lässt, ihre Haltung ändern können. Die Studentin Lotte wird dabei vor allem von ihrer Zuneigung zu Ayten getrieben, und ihre Mutter Susanne wird nicht als klischeehafte Spießerin gezeichnet, weder von Akin noch von Hanna Schygulla selbst, sondern als gebildete Frau, die sich aus dem wahren Leben zurückgezogen hat und nun schlagartig wieder damit konfrontiert wird.
Schließlich verbindet das Thema Familie, das ebenfalls die Filmographie Akins durchzieht, alle Geschichten. Familie ist mal ein Refugium, mal ein Ort, dem man entfliehen will, mal der Inbegriff des Stillstands, mal die Illusion von Glück. Das war in „Kurz und schmerzlos“
(fd 33 374) so, in „Solino“
(fd 35 674), auch in „Gegen die Wand“. Beide Themen, die Kultur und die Familie als Lebenshintergrund, sind bei Akin Ausdruck der eigenen zwiespältigen Haltung zu Deutschland und der Türkei, aber auch zu Tradition und Verwurzelung einerseits und rebellischer „Rock’n’Roll“-Attitüde andererseits. Dass gerade vor diesem Hintergrund die Lebenslinien seiner Filmfiguren derart von der scheinbaren Willkür einer überirdischen Macht gelenkt erscheinen und am Ende doch zusammenfinden, mag Ausdruck sein für Akins Hoffnung, dass nicht alles umsonst ist. Was manchmal nicht einfach zu glauben ist, wie die Filmcrew selbst erfahren musste. Am Ende der Dreharbeiten zum Film ist einer der drei Gründer von Akins Produktionsfirma „Corazón International“ völlig unerwartet, wie vom Blitz getroffen, mit gerade 48 Jahren gestorben: Andreas Thiel, selbst Regisseur und Autor, der lange fürs Fernsehen gearbeitet hat, dann für seinen eigenen Debütfilm „Kismet“ Fatih Akin als Hauptdarsteller engagiert und ihn seit „Solino“ als Mitstreiter begleitet hat. Ihm ist „Auf der anderen Seite“ gewidmet.