Nostalgia de la luz

Dokumentarfilm | Chile/Frankreich/Deutschland 2010 | 90 Minuten

Regie: Patricio Guzmán

Dokumentarischer Essay, der anhand der Atacama-Wüste dem Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart in Chile nachspürt. Die klimatischen Besonderheiten machen diese Wüste zum begehrten Ort für astronomische Studien; zugleich spielten sich dort die düstersten Kapitel der chilenischen Geschichte ab: Im 19. Jahrhundert wurden die Arbeiter im Bergbau ausgebeutet, während der Militärdiktatur wurde hier ein berüchtigtes Konzentrationslager errichtet. Ein bemerkenswert reifes, transzendentes Spätwerk, das ein vielschichtiges Bild der chilenischen Gesellschaft nachzeichnet und sich dabei zur poetischen wie auch politischen Reflexion verdichtet. (O.m.eng.U.; Auftakt einer Trilogie: vgl. "Der Perlmuttknopf", 2015) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
NOSTALGIA DE LA LUZ
Produktionsland
Chile/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Atacama Prod./Blinker Filmprod./Cronosmedia
Regie
Patricio Guzmán
Buch
Patricio Guzmán
Kamera
Katell Djian
Musik
Miguel Miranda · José Miguel Tobar
Schnitt
Patricio Guzmán
Länge
90 Minuten
Kinostart
23.12.2010
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Holz und Eisen knirschen, Räder bewegen sich, es öffnet sich ein Fenster zum Himmel: Das alte deutsche Teleskop in Santiago de Chile funktioniert immer noch. Für den 1941 geborenen Regisseur Patricio Guzmán ist die Begeisterung für die Astronomie untrennbar mit seiner idyllischen Kindheit in Chile verbunden, in einem Land, das in friedlicher Provinzialität im Schatten der Anden lag und dem großen Weltgeschehen den Rücken zuwandte. Eine Zeit, die erst mit der Aufbruchstimmung der 1960er-Jahre endete, welche zur Volksfront-Regierung von Salvador Allende und dann zum blutigen Putsch Pinochets und zur Militärdiktatur führte. Seit den 1960er-Jahren ist Chile aber auch das gelobte Land für Astronomen aus aller Welt. Aufgrund des extrem trockenen Klimas in der Atacama-Wüste sind in den Bergen mehrere große Sternwarten errichtet worden. „Nostaliga de la luz“ führt in diese Landschaft, die so unwirtlich wie von einem anderen Planet erscheint, aber auf eine lange Siedlungsgeschichte von Handel und Bergbau, aber auch Ausbeutung und Terror zurückblickt. Guzmáns Film ist ein ungewöhnliches Essay über unser Verhältnis zur Zeit, zur Vergangenheit und zu Sternen und Planeten, die längst gestorben sind, wenn ihr Licht die Erde erreicht: eine Topografie der Vergangenheit. Für Gaspar, den jungen Sternenforscher, existiert die Gegenwart nicht, denn alles, was die Teleskope empfangen, Worte oder Lichtreflexe, ist längst vergangen, wenn es bei uns ankommt. Wie Gaspar spüren auch die anderen Wissenschaftler mit modernsten Instrumenten dem Zusammenhang zwischen Zeit und Licht im Universum und dem Ursprung unserer Existenz nach. Lautaro ist Archäologe und sucht die Spuren menschlichen Lebens aus den letzten 1000 Jahren zwischen den Felsen der Wüste: Zeichnungen oder Mumien, denn durch den hohen Salzgehalt des Bodens werden die Körper oft über Jahrhunderte konserviert. Für den Archäologen ist es bezeichnend, dass sich die chilenische Gesellschaft zwar für ihre präkolumbianische Vergangenheit interessiert, nicht aber für ihre jüngere Geschichte, etwa die der Ausbeutung der Minenarbeiter im 19. Jahrhunderts oder der Massaker während der Pinochet-Diktatur. Denn in der Atacama-Wüste lag das berüchtigte Konzentrationslager „Chacabuco“, das aus den Gebäuden einer alten Mine bestand, den Baracken der Arbeiter. Miguel hat seine Haft in der Atacama-Wüste nur durch sein extremes Erinnerungsvermögen überlebt. Als Häftling schritt er die Räumlichkeiten immer wieder aus, weshalb er später im dänischen Exil ein genaues Bild des Lagers zeichnen konnte. Luis erleichterte sich die Zeit im KZ, indem er mit selbst gebauten Gerätschaften die Sterne beobachtete. In der Wüste suchen aber auch die Frauen mit Schaufeln nach den Resten ihrer ermordeten Angehörigen. Deren Körper wurden zertrümmert und in der Wüste zerstreut; jetzt kämpfen alte Frauen in archäologischer Kleinstarbeit gegen das Vergessen. Nicht allen passt das; ihre Gegner geifern, dass sie wie Lepra auf dem makellosen Gesicht der chilenischen Gesellschaft seien, die sie mit Problemen konfrontieren würde, die keiner mehr hören wolle, erzählt eine der Frauen mit leichtem Sarkasmus. Zwei junge Sternenforscher zählen auf ihre Weise ebenfalls zu den Opfern der Militärdiktatur: Der 29-jährige Victor wurde im deutschen Exil geboren. Seine Mutter arbeitet als Physiotherapeutin mit den Folteropfern der Militärdiktatur, von denen es nach offiziellen Angaben rund 30.000 gibt, obwohl doppelt so viele vermutet werden. Valentina ist bei ihren Großeltern aufgewachsen, ihre Eltern wurden von der Junta ermordet. Ihre Kinder, hofft sie, werden ohne die Schatten der Vergangenheit aufwachsen. Patricio Guzmán zählt zu den bedeutendsten Dokumentarfilmern des lateinamerikanischen Subkontinents. In seinen Arbeiten kommt er immer wieder auf das Trauma des Landes durch den Putsch Pinochets und die darauf folgende Diktatur zurück, von „La Batalla de Chile“ (1975-79) über „El caso Pinochet“ (2001) bis zu „Salvador Allende“ (2004). Sein jüngster Film ist ebenso poetisch wie politisch, lebt von den beeindruckenden Landschaftsaufnahmen und den umwerfenden Bildern des Weltalls, aber auch von der Kraft seiner Protagonisten, insbesondere der alten Frauen und ihres zähen Kampfs gegen das kollektive Vergessen. „Nostalgia de la luz“ ist ein bemerkenswert reifes Spätwerk, das transzendent, ohne metaphysisch zu werden, die Topografie der Atacama-Wüste im Norden Chiles mit Fragen nach unserem Verhältnis zu Vergangenheit und Gegenwart verbindet, die Unendlichkeit des Weltraums und die Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit Chiles.
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