À perdre la raison

Drama | Belgien/Luxemburg/Frankreich/Schweiz 2012 | 114 Minuten

Regie: Joachim Lafosse

Ein junger Marokkaner und eine Belgierin lieben sich, heiraten und bekommen vier Kinder. Zum Unterhalt schießt ein älterer Arzt viel bei, der väterliche Freund des Mannes, der ihn einst als Adoptivsohn mit nach Europa brachte. Seine Fürsorge ist umfassend und droht das Familienleben nachhaltig zu beeinträchtigen. Elliptisch erzählte Chronologie einer Tragödie, die an kleinen Details eine beängstigende Dynamik kultureller Unterschiede entfaltet und zu einem irritierend fatalen Mechanismus verdichtet. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
À PERDRE LA RAISON | AIMER À PERDRE LA RAISON
Produktionsland
Belgien/Luxemburg/Frankreich/Schweiz
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Versus Prod./Samsa Film/Les Films du Worso/Box Prod./Prime Time/BNP PAribas Fortis Film Fund/RTBF/RTS/SRG SSR idée suisse
Regie
Joachim Lafosse
Buch
Thomas Bidegain · Joachim Lafosse · Matthieu Reynaert
Kamera
Jean-François Hensgens
Schnitt
Sophie Vercruysse
Darsteller
Niels Arestrup (Doktor André Pinget) · Tahar Rahim (Mounir) · Émilie Dequenne (Murielle) · Stéphane Bissot (Françoise) · Mounia Raoui (Fatima Pinget)
Länge
114 Minuten
Kinostart
04.04.2013
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
„À perdre la raison“ beginnt unvermittelt, sozusagen mit dem Schrecken voraus: Eine verstörte Frau auf einer Notfallstation, vier weiße Särge, die in ein Flugzeug verladen werden. „Werden sie nach Marokko gebracht? Man muss sie nach Marokko überführen“, stammelt die Frau. Eine weitere Szene fügt sich an. Ein älterer, europäisch aussehender Mann begrüßt bewegt einen jüngeren arabischer Herkunft. Es ist dies eine heftige und traurige Exposition. Sie sticht umso mehr ins Auge, als der Film des Belgiers Joachim Lafosse danach unvermittelt in helle Heiterkeit zurückblendet. Da sind der Marokkaner Mounir und die Belgierin Murielle, jung, verliebt, glücklich. Mounir (Tahar Rahim), so stellt sich im Laufe des Films heraus, wurde von dem Arzt André Pinget (Niels Arestrup) als Jugendlicher nach Europa geholt. André ist sein Gönner, sein Ziehvater, und auf dem Papier auch der Gatte von Mounirs in Marokko lebender Schwester. Murielle (Emilie Dequenne) ist Grundschullehrerin. Sie hat eine ältere Schwester, Françoise, doch nicht die liebevolle Familie, nach der sie sich sehnt. So reagiert sie zwar irritiert, interveniert aber nicht, als Mounir während einer Autofahrt feststellt, dass er sie heiraten werde, und nicht fragt, ob sie das auch möchte. Es sind feine Details, an welchen sich in diesem rüd-sensiblen Drama der Kulturunterschied und das fatale Verhältnis nicht nur zwischen Mann und Frau, sondern auch des jungen Paares zu André manifestiert. Doch vorerst ist man kopflos glücklich. Murielle zieht zu André und Mounir. Mounir und Murielle heiraten, André bezahlt die Flitterwochen und reist mit. Mounir findet keinen Job, André beschäftigt ihn in seiner Praxis. Mounir und Murielle bekommen ihr erstes Kind: André gratuliert und beschenkt die junge Familie reich. So dreht sich die Spirale fort und fort. Murielle gebiert eine zweite, eine dritte Tochter; arbeitet weiterhin als Lehrerin. Mounir ist überfordert, zunehmend gereizt. André hilft, vermittelt. Murielle braucht Andrés Hilfe, doch seine Nähe ist ihr viel. Mounir kommt ohne André nicht über die Runden. Dann kommt das vierte Kind, ein Sohn. Doch es ist schon zu spät, die unbeschwerte Heiterkeit ist längst aus diesem Film verschwunden, den Lafosse als herbe Chronik einer Tragödie aufgezogen hat. Er erzählt elliptisch, manchmal ruppig, manchmal zärtlich, mal in riesigen Zeitsprüngen, mal in kleineren, und seine Akzente verblüffen: Sind die drei Töchter plötzlich einfach da, wird die Geburt des Söhnchens inszeniert. Hütet Mounir als guter Papa zwar seine Töchter, so herzt er doch einzig seinen Sohn. Verspricht er Murielle das Blaue vom Himmel, so justiert er mit André im Hamam seine Pläne exakt nach dessen Wünschen. Und erscheint André vorerst als selbstloser Gönner, entpuppt er sich je länger, desto mehr als Despot, der sich in die intimsten Angelegenheiten des jungen Paares einmischt. „À perdre la raison“ kommt kommentarlos daher, doch dem Presseheft ist zu entnehmen, dass eine authentische Begebenheit, die sich 2007 in Belgien ereignete, den Anstoß gab. Vor allem von Emilie Dequenne überzeugend gespielt, realitätsnah in Darstellung dessen, was gemeinhin als normalalltägliches Leben gilt, beunruhigt „À perdre la raison“ tief durch seine verhängnisvolle Fatalität, welche selbst ein in bester Absicht geführtes Leben bisweilen in rettungslose Abgründe stürzt.
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