Der Sohn der Anderen

Drama | Frankreich 2012 | 105 Minuten

Regie: Lorraine Lévy

Bei der Einberufung zur israelischen Armee wird offenbar, dass der Sohn einer jüdischen Familie aus Tel Aviv als Säugling mit einem palästinensischen Jungen aus dem Westjordanland verwechselt wurde. Aus dieser Entdeckung resultieren (un-)heilsame Erschütterungen, die alle Beteiligten vor schwerwiegende Fragen nach Identität und Selbstverständnis stellen. Da die Inszenierung die unterschiedlichen Reaktionen sehr genau aus den Figuren heraus entwickelt, entgeht die märchenhafte Dramödie den Fallstricken eines politisch-moralischen Lehrstücks, auch wenn der Film nicht mit Kritik an den patriarchalen Gesellschaft dies- und jenseits der Mauer spart. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LE FILS DE L'AUTRE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Rapsodie Prod./Cité Films/France 3 Cinéma/Madeleine Films/Solo Films/Orange Cinéma
Regie
Lorraine Lévy
Buch
Lorraine Lévy · Nathalie Saugeon
Kamera
Emmanuel Soyer
Schnitt
Sylvie Gadmer
Darsteller
Emmanuelle Devos (Orith Silberg) · Pascal Elbé (Alon Silberg) · Jules Sitruk (Joseph Silberg) · Mehdi Dehbi (Yacine Al Bezaaz) · Areen Omari (Leïla Al Bezaaz)
Länge
105 Minuten
Kinostart
17.09.2015
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Komödie
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IMDb | TMDB

Politisch-moralisches Lehrstück über den Palästina-Konflikt

Diskussion
Der Sohn, ein Träumer, musikalisch und schon rein optisch als Fan von Bob Dylan zu erkennen, will in die Fußstapfen des Vaters treten. Er möchte zur israelischen Luftwaffe, zu den Fallschirmspringern, einer Eliteeinheit. Weil sein Vater, hochdekoriert und hochangesehen, einen hohen Posten im Verteidigungsministerium bekleidet, könnte das auch klappen, obwohl der sensible Joseph sehr zurückhaltendend ist. Doch in Lorraine Lévys „Der Sohn der Anderen“ kommt alles ganz anders. Ein Bluttest bei den Untersuchungen, die dem dreijährigen israelischen Wehrdienst vorausgehen, offenbart, dass Joseph genetisch nicht der Sohn seiner Eltern ist. Kurz vor Josephs 18. Geburtstag wird die tragische Verwechslung aufgedeckt: In der Nacht seiner Geburt war die nordisraelische Küstenstadt Haifa von Raketen beschossen worden; bei der hektischen Evakuierung der Geburtsstation kam es wohl zur tragischen Verwechslung von zwei Säuglingen. Vor dem Direktor des Krankenhauses sitzen die jeweiligen Eltern aufgereiht: Die Väter außen, die Mütter in der Mitte. Bei dieser Konstellation bleibt es. Wo die Mütter sich annähern, verschließen sich die Väter – vor allem gegen sich selbst, aus Hilflosigkeit. Offenbar können sie es nicht besser, sie haben es nicht anders gelernt. Im ihrem Verhalten beschreibt der Film zwei patriarchal funktionierende Gesellschaften: die israelische und die palästinensische. Denn, pikantes Detail in der Verwechslungsgeschichte: Die Familie, die den leiblichen Sohn von Josephs wohlsituierten Eltern aufzog, ist palästinensisch, sie lebt im Westjordanland. Der Sohn allerdings, Yacine, ist in Paris zur Schule gegangen, hat gerade Abitur gemacht und will Medizin studieren. „Der Sohn der Anderen“ ist vorderhand eine Versuchsanordnung mit naheliegendem politischem Hintergrund – anhand der Verwechslung wird der Nahostkonflikt reflektiert. Weil die französische Regisseurin aber ganz genau auf ihre Figuren schaut, ganz nah bei ihnen und ihren sehr menschlichen Reaktionen bleibt und außerdem jede Rolle hervorragend besetzt hat, löst sich der Eindruck schnell auf, einem politisch-moralischen Lehrstück zuzuschauen. Nur ein Nebenstrang mit Yacines sich zuerst radikalisierendem, dann aber wundersam wieder entradikalisierendem Bruder ist recht durchsichtig und paradigmatisch konstruiert. Als Sub-Spielart des Verwechslungsplots taucht die Vertauschung von zwei Säuglingen im Kino gelegentlich auf, beispielsweise in Étienne Chatiliez’ Komödie „Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss“ ((fd 27 225); 1987) wie auch im anrührenden Drama „Like Father, Like Son“ ((fd 42 583); 2013) von Hirokazu Koreeda werden soziale und ethische Implikationen ausgelotet; die Moral von der Geschichte: Mehr Zeit ist für Kinder immer wichtiger als viel Geld. Soziale Unterschiede gibt es in „Der Sohn der Anderen“ auch, sie werden, quasi nebenbei, als politisch bedingt ausgewiesen. Da die beiden Söhne fast volljährig sind, geht es vielmehr um Fragen der Identität und des Selbstverständnisses. Hierin übt der Film dann ganz deutlich Kritik. Zunächst genügt ja schon der simple, humanistische Gedanke, dass jeder auch auf der anderen Seite stehen könnte; das war ja die Grundidee der sehr witzigen, ebenfalls französischen Tragikomödie „Das Schwein von Gaza“ ((fd 41 195); 2011). Als stetes Sinnbild einer gespaltenen Welt fungiert in „Der Sohn der Anderen“ die Mauer, die Israel vom Westjordanland trennt; und der obligatorische Checkpoint, den die Figuren in beide Richtungen immer wieder passieren. Lévy, selbst Jüdin, spart nicht mit Seitenhieben auf die religiöse, hier vor allem die jüdische Identität: Wo der jüdisch sozialisierte Joseph plötzlich kein Jude sein darf, jedenfalls nicht unmittelbar, ist Yacine plötzlich einer, ob er will oder nicht: Seine leibliche Mutter ist schließlich Jüdin. Vor allem aber zielt Lévys Kritik auf das patriarchale System, in dem sich die Fronten extrem verhärtet haben. In einer metaphorischen Schlüsselszene treffen sich die beiden Väter zum Kaffeetrinken, was schon ein Fortschritt ist. Sie sitzen im Café zusammen am Tisch, aber keiner sagt ein Wort. Am Ende wandelt sich der Film dann zum Märchen. Die Mütter und ihre Söhne lassen hoffen: auf eine neue Generation, die in einem anderen Geist erzogen wird.
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