Dokumentarfilm | Schweiz/Niederlande/Deutschland/Indien/VR China/Brasilien 2014 | 80 Minuten

Regie: Katarina Schröter

Die Dokumentaristin Katarina Schröder heftet sich in den Megastädten Mumbai, Shanghai und Sao Paolo an die Fersen fremder Menschen und lässt sich dabei von der Kamera begleiten. Ohne je selbst ein Wort zu sprechen, entwickeln sich aus den zufälligen Begegnungen mit einem Taxifahrer, der seit vielen Jahren in seinem Gefährt wohnt, einem chinesischen Wanderarbeiter und einer erfolgreichen Marketing-Managerin verblüffend persönliche Beziehungen. Ein „Non-Fiction“-Filmexperiment, bei dem die Filmemacherin Teil des Alltags wird und die Grenzen zwischen dem Ich und dem Anderen, zwischen eurozentrischer und peripherer Perspektive reizvoll verschwimmen. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
THE VISITOR
Produktionsland
Schweiz/Niederlande/Deutschland/Indien/VR China/Brasilien
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Visitorfilmproject
Regie
Katarina Schröter
Buch
Katarina Schröter
Kamera
Paola Calvo
Musik
Michael Haves
Schnitt
André Nier · Karin Jacobs
Länge
80 Minuten
Kinostart
05.02.2015
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Auf Du und Du mit Fremden. Doku

Diskussion
Wir können nicht nicht-kommunizieren. Nicht sprechen können wir schon; das heißt dann Schweigen. Der Volksmund und andere Philosophen empfehlen diese Kulturtechnik bei Situationen, in denen einem überhaupt nichts einfällt. Wir schweigen, wenn wir keinen Plan haben, wenn wir schüchtern oder müde sind. In Gesellschaft aber auf Dauer nicht zu reden, gilt als unhöflich und unkommunikativ. Katarina Schröter aber macht in „The Visitor“ diese Sprachlosigkeit für gesellschaftliche Begegnungen fruchtbar. Sie heftet sich an die Fersen fremder Menschen und lässt nicht mehr von ihnen ab, bis sie nach und nach immer mehr Persönliches erfährt. Ohne selbst ein Wort zu sagen, allerdings unter vollem mimischem Einsatz. Für ihre als „Non-Fiction-Film“ begrifflich irgendwo an den Rändern des Dokumentarischen angesiedelte Performance hat sie sich die wuseligen Megacities Mumbai, Sao Paolo und Shanghai ausgesucht. Dort begegnet sie einem Taxifahrer, einer Friseurin, einem Wanderarbeiter und einer Angestellten. Besser gesagt, sie stellt ihnen nach. Wie reagiert einer, der von einem anderen ohne erkennbaren Grund auf Schritt und Tritt verfolgt wird? Er wird aggressiv und möchte ihn loswerden. Könnte man meinen. In „The Visitor“ präsentieren sich die Aufgelauerten überraschend aufgeschlossen. Ein paar unspektakuläre Beschimpfungen, eine höfliche Zurechtweisung, mehr nicht; ein Mann bringt sogar Blumen vorbei. Stattdessen erzählt der brasilianische Taxifahrer Cigano seinem Gast freimütig von seiner Tochter, deren Kinderfoto neben dem Armaturenbrett baumelt, und spricht davon, wie gern er mal wieder eine Frau kennenlernen würde. Er lebt in seinem Gefährt, Schröter schließt sich ihm vorläufig an. In einer Wohnbaracke in Shanghai spielt sie mit Wanderarbeitern zwischen Doppelstockbetten Karten. Sie scheinen die große, brünette Frau mit dem schwarzen Kleid und dem Flechtzopf zwar seltsam zu finden, aber sie stören sich nicht an ihr. Von dem jungen Xilong erfährt Schröter, dass ihm sein Job nicht gefällt und dass er seinen Boss nicht leiden kann. Der hat ihn um sein Geld geprellt. Die manipulative Wirkung, welche die Präsenz einer Kamera auf die Porträtierten ausübt, ist eine ebenso alte Kamelle wie die Frage, ob dieser Fakt die dokumentarische Arbeit a priori torpediert. Umso erstaunlicher, dass man als Zuschauer bisweilen vergisst, dass die Kamerafrau Paola Calvo hier ja auch noch irgendwo sein muss. Denn bei allem Erzeugten und Performativen haben manche Situationen etwas erstaunlich Intimes. Dies gilt besonders für die Begegnungen mit der Chinesin Christina, die Schröters Konzept am ehesten durchschaut. Sie reflektiert aus dem Off über die Performance. Katarina sei ihr zunächst wie ein Engel erschienen. Händchenhaltend spazieren die beiden durch die Straßen, teilen sich ihre Kopfhörer. Wenn sie dann auch noch nebeneinander im Bett fläzen und im Hintergrund Christinas Französisch-Lern-CD läuft, bekommt das Ganze etwas derart Verbundenes, Mädchenfreundschaftsmäßiges, dass man sich wie in einem „Coming of Age“-Film vorkommt.
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