Der Sommer mit Mamã

Drama | Brasilien 2015 | 111 Minuten

Regie: Anna Muylaert

Obwohl eine ältere Haushälterin seit Ewigkeiten bei ihren reichen Arbeitsgebern wohnt und sie den Sohn des Hauses groß gezogen hat, sind die Sphären in der weitläufigen Villa in São Paulo streng getrennt. Die eingefahrenen Routinen und Hierarchien werden erst in Frage gestellt, als die Tochter der Angestellten sich zu Besuch anmeldet, um sich an der Universität für ein Architekturstudium einzuschreiben. Das warmherzige Drama inszeniert keinen schlichten Clash der Klassen, wahrt vielmehr mit viel Witz und überraschenden Wendungen eine bemerkenswerte Balance, wobei Humor und ein subtiler sozialkritischer Blick die überholten Verhaltensmuster der kolonialen Vergangenheit Brasiliens ad absurdum führen. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
QUE HORAS ELA VOLTA?
Produktionsland
Brasilien
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Gullane Filmes/Africa Filmes/Globo Filmes
Regie
Anna Muylaert
Buch
Anna Muylaert
Kamera
Barbara Alvarez
Musik
Vitor Araújo · Fábio Trummer
Schnitt
Karen Harley
Darsteller
Regina Casé (Val) · Camila Márdila (Jéssica) · Michel Joelsas (Fabinho) · Karine Teles (Barbara) · Lourenço Mutarelli (Carlos)
Länge
111 Minuten
Kinostart
20.08.2015
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras enthalten u.a. ein Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen.

Verleih DVD
Pandora (16:9, 2.35:1, DD5.1 port./dt.)
Verleih Blu-ray
Pandora (16:9, 2.35:1, dts-HDMA port./dt.)
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Humorvoller »Klassenkampf«

Diskussion
An der Küchentür scheiden sich die Geister. Seit über zehn Jahren bleibt Val als Haushälterin in „ihrem“ Bereich, kocht und wäscht ab. Im Esszimmer daneben hat sie noch nie am Tisch Platz genommen. Dort serviert sie der Familie des Hauses die Mahlzeiten. Obwohl sie unter demselben Dach in einem Dienstmädchenzimmer wohnt, beschränkt sich Vals Teilhabe am Zusammenleben auf die offene Küchentür und die liebevolle Betreuung von Fabinho, dem Sohn des Hauses. Es sind ungeschriebene Regeln, die in der weitläufigen Villa in São Paulo herrschen. Überbleibsel aus einer Zeit, als die Kolonisierung Brasiliens durch Portugal zur Bildung einer Zweiklassengesellschaft führte: die wohlhabenden, aus Europa stammenden Immigranten auf der einen Seite, die versklavten indigenen Bevölkerungsgruppen und „importierten“ Sklaven aus Afrika auf der anderen Seite. Val lebt allerdings im Brasilien der Gegenwart, das Gleichheit für alle anstrebt, und sie ist keine Sklavin. Sie kümmert sich gern um den Haushalt und hat Fabinho fest in ihr Herz geschlossen. Auch Fabinhos Eltern wirken wie aufgeschlossene, liberale Menschen. Dennoch haben alle Figuren als Mitglieder einer höchst heterogenen Gesellschaft, die bis heute von krassen sozialen Unterschieden geprägt ist, tradierte Verhaltensmuster internalisiert. Im Verlauf des Films führt die Regisseurin Anna Muylaert diese gekonnt mit warmem Humor und durchdringendem sozialkritischen Blick ad absurdum. Wie es die Tradition in kammerspielartig angelegten Filmen verlangt, stört Muylaert das eingependelte Arrangement in der Villa durch ein unverhofftes Ereignis. Eines Tages meldet sich Vals Tochter, die im armen Nordosten Brasiliens aufgewachsen ist, während Val im reichen Süden den Lebensunterhalt verdient. Jéssica will in São Paulo die Aufnahmeprüfung für ein Architekturstudium ablegen und bei ihrer Mutter wohnen. Wie despektierlich die Verhältnisse zwischen Val und ihren Arbeitgebern in Wahrheit sind, zeigt sich ab diesem Augenblick. Natürlich könne Jéssica kommen, Val gehöre schließlich zur Familie, sagt Senhora Bárbara. Aber dass Val überhaupt eine Tochter hat, war der überraschten Bárbara offenbar entfallen. Kaum ist der „Eindringling“ angekommen, bringt dieser die Hierarchien im Haus durcheinander, in dessen Architektur sich die zweigeteilte Gesellschaft spiegelt. Arglos überschreitet Jéssica die Grenzen zwischen Dienstboten- und Wohnbereich. Sie plaudert über Kunst und Architektur mit dem Hausherrn, lässt sich von Bárbara an „deren“ Tisch das Frühstück bereiten und sieht nicht ein, warum sie bei ihrer Mutter auf einer Matratze auf dem Fußboden übernachten sollte, wenn das bequeme Gästezimmer leer steht. Carlos und Sohn Fabinho gefällt das kluge und selbstbewusste Mädchen. Val und Bárbara empören sich hingegen über Jéssicas Respektlosigkeit. Doch die lässt sich von einer Mutter, die für sie nie eine war, nichts sagen und wirft Val vor, sich wie ein Mensch zweiter Klasse zu verhalten. Dass der Film keinen schlichten Clash der Generationen und sozialen Klassen inszeniert, sondern der Plot zugleich mit viel Warmherzigkeit, Witz, unbehaglichen Subtilitäten und überraschenden Wendungen angereichert wird, ist ein bemerkenswerter Balanceakt der Regisseurin, deren eigenes Kindermädchen die Inspirationsquelle für diesen Film war. Regina Casé verkörpert ihre Rolle mit eindrucksvoller Wahrhaftigkeit. Sie vereint Schalk und Scham, Durchsetzungskraft und Unterwürfigkeit, angetrieben von einer letztlich selbstlosen Liebe zu den Menschen, die ihr nahestehen. In ihr konzentrieren sich gesellschaftliche Paradoxe, etwa, dass sie ihr eigenes Kind verließ, um ihm durch die Betreuung eines fremden Kindes eine Zukunft zu ermöglichen. Das ist kein seltenes Phänomen in Brasilien, wo sich schon der Mittelstand Kindermädchen leisten kann. Scheinbar banale und amüsant präsentierte Diskussionen darüber, wer welche Eissorte essen und wer im Pool schwimmen darf, machen aber auch außerhalb von Brasilien bewusst, was Gleichheit und Toleranz in durchlässig gewordenen Gesellschaftsstrukturen tatsächlich bedeuten.
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