Dicht stehen die Baumstämme beisammen, um den Jägern ebenso Schutz zu bieten wie dem Elch, auf den sie es abgesehen haben. Der Schuss ist wie ein Einbruch in die Natur, der seinen Nachhall hat: Kurz darauf zischen aus dem Hinterhalt Indianerpfeile auf die in der Nähe lagernde Gruppe Trapper, der die Pelzjäger angehören. Wie eine Horde panischer Büffel streben sie auseinander, raffen ihre frisch gehäuteten Biberfelle an sich und lassen sie wieder fallen, um den rettenden Fluss zu erreichen.
Mit diesen grandios durch den Dreck und Nebel der Büchsensalven fließenden Plansequenzen erschafft Alejandro González Iñárritu die erste von vielen Bildersymphonien, die allesamt zweierlei sind: wunderschön und voller Gewalt. Es ist eine Brutalität, die, wie die Natur, keinen Unterschied macht zwischen Hautfarben, zwischen Mensch und Tier, Gut und Böse. Mal hängt sich die Kamera an einen schwer verletzten Trapper, der unter Schock eines seiner Pferde erschießt, mal an einen Ree-Indianer, der marodierend durchs Lager galoppiert.
In diesem eiskalten Inferno etabliert Iñárritu diee Konstanten seiner Rachegeschichte. Nur wenige werden es schaffen, aus ihm herauszukommen, darunter die beiden Jäger, die die Indianer anlockten. Sie selbst wandeln Anfang des 19. Jahrhunderts zwischen „alter“ und „neuer Welt" des kaum besiedelten Amerikas. In perfektem Pawnee raunt Hugh Glass seinem halbindigenen Sohn Hawk Anweisungen zu, als sie als Scouts die Trapper unter Kommando von Kapitän Henry sicher zum nächsten Ford bringen sollen. Der „weiße“ Glass, dem in seinen Träumen immer wieder das niedergemetzelte Dorf seiner Frau, einer Pawnee, erscheint und von dem es heißt, er hätte einen Leutnant erschossen, ist kein Held, der ohne Not gegen das Unrecht der Welt vorgeht. Man müsse zum Überleben den Kopf unten und den Mund geschlossen halten, bläut er seinem Sohn ein, als der Rassismus des Söldners Fitzgerald in Gewalt umzuschlagen droht. Doch dieser von Vaterliebe getriebenen Strategie gegen das Raubtier Mensch wird der Mutterinstinkt eines anderen Raubtiers zum Verhängnis: Eine Grizzly-Bärin, Mutter zweier Jungtiere, beißt und zerfleischt Glass‘ Körper ohne Unterlass, ohne Gnade – auch für den Zuschauer, dem klar wird, in welch „mitfühlintensives“ Körperkino ihn Iñárritu nach seinem kunstvoll durchstilisierten „Birdman“
(fd 42 869) hier wirft.
Was für ein Film ist das geworden. So anders, als alles, was der Regisseur verwobener Episodenerzählungen bisher geschaffen hat, packend und hintergründig, trotz des geradlinigen Gestus‘ eines Survival-Films. Mit klaffenden, notdürftig geflickten Wunden, stumm und sterbend auf eine Bahre gefesselt, wird Glass für ein Extrageld in der Obhut von Hawk, dem jungen Bridger und Fitzgerald zurückgelassen. Als Hawk Fitzgeralds Tötungsversuch, von dem nie ganz klar wird, ob ihn Glass nicht einforderte, zu verraten droht, stirbt er durch die Hand des skrupellosen Mannes. Was für den zum Sterben zurückgelassenen Vater zum verhassten Fixpunkt seiner Rückkehr wird.
Der Raubtierangriff ist einer der realistischsten der Filmgeschichte und macht Iñárritus Film zu einem schmerzhaft erfahrbaren Erlebnis. Befördert wird es von einer intensiv-unmittelbaren Kamera, die die „vierte Wand“ sichtbar macht, wenn die Linse vom Bärenatem beschlägt, wenn Schneeflocken auf sie fallen und Wassertropfen spritzen, bevor sie mit dem Helden vom Fluss umspült wird. Mit Glass‘ Rückkehr ins Leben begibt sie sich in von der Sonne durchbrochene Baumwipfel, in Totalen endloser Flussläufe, ganz nah an in großen Tropfen eingefrorene Blätter. Die von Emmanuel Lubezki eingefangenen Bilder erinnern an seine traumartigen Beschwörungen in Terrence Malicks „The New World“
(fd 37 497). Glass wird in Visionen vor einem in den Himmel getürmten Haufen Bison-Hörner stehen, ein anderes Mal imaginiert er Hawk in einer von christlichen Ikonografien bemalten Kirchenruine – Zeugnisse der Gräueltaten und Hoffnungen von Menschen, die den Ureinwohnern in Gottes Namen das Verderben brachten. Daran, wer die wahren Wilden sind, lässt der Film keinen Zweifel.
Einmal mehr kreist der Mexikaner Iñárritu mit metaphysischem Touch um seine wichtigsten Themen Leid, Schuld und Vergebung. Dabei wird der „Rückkehrer“ auf dem von Blut getränkten Boden zum „Wiedergänger“, der in der rauen Natur schon so viele Tode hätte sterben sollen, aber für den Tod eines anderen Mannes weiterlebt – bis er die Rache in die Hände des Schöpfers legt. Diese Mission hat so gar nichts christlich Vergebendes an sich, und doch ist „The Revenant“ ein Martyrium, das den Menschen ohne die dünne Decke der Zivilisation als das Raubtier zeigt, das er wirklich ist. Das einzige Heil könnte im selbstlosen Aufbegehren gegen das Unrecht liegen – doch das erfährt Glass erst am Schluss. Davor kämpft jeder gegen jeden, wobei sich sogar die Tonspur auf dem Kriegspfad zu befinden scheint: trommelnd, klopfend, tropfend, bis sich das Wasser am Ende zum Tosen steigert, als ob es endlich taut, nachdem sich so viel Blut im Schnee der grandiosen Natur eingefroren hat
Die Gier- und Rache-Rochaden der Menschen muten mitunter wie der Überlebenskampf verirrter Ameisen an. „Du atmest noch“, sagt Glass einmal zu seinem halb verbrannten kleinen Sohn, „atme weiter.“ Und so liegen auch dann noch Atemzüge über der Schwarzblende des Abspanns, als das Kino schon längst in Dunkelheit getaucht ist.