Sue heißt eigentlich Susanne, ist 12 Jahre alt und steckt bereits mitten in derPubertät. Zusammen mit ihrem Vater will sie ihre Mutter Maria, eine berühmte Wissenschaftlerin, zum Geburtstag im Labor überraschen. Doch das endet in einer veritablen Katastrophe – der Forschungsreaktor explodiert. Die Folge davon: Sue wird zeitweilig unsichtbar, und mit ihr alles, was sie berührt.
Anfangs steht sie unter Schock, doch dann entdeckt das Mädchen, dass es die neue Fähigkeit bewusst einsetzen kann. Ein schöner Nebeneffekt des Unfalls ist auch, dass sich ihre Mutter fortan geradezu aufopferungsvoll um sie kümmert, wenngleich teilweise auch aus beruflichem Interesse. Doch bevor die Mutter ein Gegenmittel entwickeln kann, wird sie entführt. Mit Hilfe ihrer neuen Freunde, der Tüftlerin App und des Mitschülers Tobi, macht sich Sue daran, ihre Mutter zu retten.
Mutter mit MINT-Beruf
Die Handlung von Markus Dietrichs „Invisible Sue – Plötzlich unsichtbar“ ist originell und erfüllt ziemlich alle Ansprüche, die Eltern, Lehrkräfte und die gesamte Medienpädagogik an einen gelungenen Familienfilm stellen. Es gibt eine weibliche Hauptfigur, deren Mutter zudem einen MINT-Beruf ausübt. Sues beste Freundin ist eine brillante IT-Bastlerin und Tobi ein sympathischer Sportler, der mit allem fahren kann, was Räder hat.
Aus dieser Grundkonstellation heraus einen Superheldinnen-Film mit ordentlich Action und vielen Spezialeffekten zu komponieren, in dem mal eben die Gesetze der Physik und der Logik ausgehebelt werden, besitzt viele reizvolle Aspekte.
Es geht auch gleich gut los. Die Exposition ist kurz und knackig, die Protagonistin wird mit Pepp eingeführt. Doch dann verliert sich die Dramaturgie schnell in einer Flut von zusätzlichen Handlungssträngen und Wendungen. Neben der Action gibt es die kompletten Freundschaftsgeschichten mit Tobi und App, eine Lovestory zwischen Sue und Tobi inklusive Konkurrentin und Eifersuchtsdrama; dazu kommen noch Sues partielle Unsichtbarkeit, die Vater-Mutter-Tochter-Beziehung, der Job der Mutter und einiges mehr.
Zu viele falsche Fährten
Das Drehbuch will zu viel; überdies wird vieles davon nicht in Bildern, sondern in Dialogen thematisiert. Manche Hinweise sind notwendig, um falsche Fährten zu legen. Solche „red herrings“ sind prinzipiell eine gute Idee, doch die schiere Masse an Informationen, die verwaltet, weitergeführt und erklärt werden müssen, hängt wie Ballast an „Invisible Sue“ und macht den Film zur Mitte hin recht schwerfällig. Es fehlt an Leichtigkeit, aber auch an einer Beiläufigkeit in der Visualisierung und bei den flotten Dialogen.
Die Handlung zerfasert, die innere Logik wird ausgebremst, die Spannung sinkt. All das trägt dazu bei, dass die schauspielerischen Leistungen der Erwachsenen, insbesondere in den kleineren Rollen, enttäuschen. Hier sind nur wenige natürliche Töne zu hören, und die Inszenierung der Dialoge beschränkt sich häufig darauf, dass einer spricht und die anderen zuhören.
Ganz anders sieht es bei den jungen Hauptdarstellern aus, unter denen Ruby M. Lichtenberg als Sue und Anna Shirin Habedank als App herausragen. Lichtenberg spielt die Hauptfigur sehr gewieft als milde rebellischen, liebenswerten Teenie. Anna Shirin Habedank entpuppt sich als spielfreudiges Talent, auch wenn sie es als „verrückte Professorin“ relativ leicht hat. Lui Eckardt als Tobi steht rollenbedingt hinter den Mädchen zurück, macht sich aber gut als Kumpel und ist trotz seines jugendlichen Alters ein überzeugender Freund.
Augenzwinkernde Verweise
Die Actionsequenzen inklusive mehrerer Verfolgungsjagden sind handwerklich gelungen, die Bildgestaltung von Ralf Noack überzeugt ähnlich wie der angemessen beschwingte Filmschnitt; geglückt ist auch der dynamische Score von André Dziezuk mit schickem Superheldinnen-Sound. Es fehlt auch nicht an augenzwinkernden Verweisen auf die großen Vorbilder, wobei am Ende auch gleich eine Fortsetzung angekündigt wird. Da ist dann auch der Pepp wieder da, eine humorvolle, lässige Leichtigkeit, die zwischendurch verlorengegangen war.
Obwohl das Fazit also „(Fast) alles richtig gemacht“ lauten könnte, will der Funke nicht recht überspringen. Zum wirklich coolen Actionfilm fehlt der Mut zu einer einfacheren Handlung und vielleicht auch die Bereitschaft, mal etwas unerklärt oder schlicht beiseitezulassen. Um wieder einmal als „Start“ in eine neue Ära des deutschen Kinder- und Jugendfilms bejubelt zu werden, eignet sich „Invisible Sue“ nur bedingt. Das größte Problem liegt dabei wahrscheinlich nicht darin, dass es zu wenig Originaldrehbücher mit emanzipatorisch-anspruchsvollen Geschichten gibt. Denn die Initiative „Der besondere Kinderfilm“ will genau das ändern, und „Invisible Sue“ gehört in diese Reihe, als fünfter Film seit 2015.
Es gibt vielmehr insgesamt zu wenig offensiv geförderte Kinder- und Jugendfilme und damit zu wenig Möglichkeiten zum Ausprobieren von Drehbüchern und Regiekonzepten. So lastet auf wenigen Filmen zu viel Druck, der es noch unattraktiver macht, sich ausgerechnet auf dieses Genre zu stürzen. Ein Teufelskreis. Wenn Filmproduktionen lieber auf Nummer sicher gehen und die Verfilmung eines Jugendbestsellers wählen, kann ihnen das eigentlich niemand verübeln. „Invisible Sue“ ist deshalb zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Also: mehr davon!