La última primavera

Dokumentarfilm | Niederlande/Spanien 2020 | 77 Minuten

Regie: Isabel Lamberti

Eine Roma-Großfamilie lebt in einem Armenviertel unweit von Madrid und hält sich mit dem Verkauf von Schrott notdürftig über Wasser. Während einer Geburtstagsfeier taucht die Polizei auf und verkündet den Abriss der Siedlung; die Bewohner sollen in Sozialwohnungen umgesiedelt werden. In unaufgeregten Bildern zeichnet der dokumentarische Spielfilm mit den Betroffenen die Diskussionen und Auseinandersetzungen innerhalb der Familie nach, die sich von ihrem Zuhause verabschieden muss. Ein vielschichtiger Film zwischen Dokumentation, Fiktion und Selbstdarstellung, der die Konfrontation zwischen Gitani und Sozialstaat auch als Beispiel für die Schwierigkeiten der radikalen Modernisierung in Spanien nutzt. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LA ÚLTIMA PRIMAVERA
Produktionsland
Niederlande/Spanien
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
ILswater Films/Tourmalet Films
Regie
Isabel Lamberti
Buch
Isabel Lamberti · Lenina Ungari
Kamera
Jeroen Kiers
Musik
Miguel Hernández Muño
Schnitt
Dorith Vinken
Länge
77 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarischer Spielfilm über eine Roma-Familie aus einem Armenviertel unweit von Madrid, die in eine Sozialwohnung umgesiedelt werden soll.

Diskussion

Noch sitzt die Roma-Familie Gabarre-Mendoza fröhlich im Patio ihres einstöckigen Hauses mit Nachbarn und Freunden zusammen. Der Geburtstag des jüngsten Sohnes der Großfamilie wird mit Kuchen und Geschenken gefeiert. Doch dann tauchen Polizisten in Uniform auf und händigen den Räumungsbescheid für das Haus aus. Ein Schreiben, das auch schon an die anderen Nachbarn gegangen ist. Die Armensiedlung soll abgerissen werden, eine Zwangsumsiedlung steht bevor.

Madrid wächst. Was vor nicht allzu langer Zeit noch Stadtrand war, ist jetzt bald wertvolles Bauland. „La Cañada Real“, ein Slumviertel am Rande von Madrid, ist vielleicht keine schöne Gegend, aber die Familien leben dort zumindest in Häusern aus Stein. Zwischen Wiesen, Bäumen, Sperrmüll und Schrott haben die Kinder viel Raum zum Spielen, weit mehr als Gleichaltrige in den Vorstädten. Die Familien verdienen Geld mit Altmetall, doch auch Drogenhändler umwerben die arbeitslosen Jugendlichen.

Aus der Sicht der Betroffenen

Der Plot klingt zunächst nach Klischees sozialer Verwahrlosung oder auch nach einer Verklärung des ungebundenen Lebens von Roma-Familien. Doch „La última primavera“ der niederländischen Regisseurin Isabel Lamberti beschreibt den kleinen Mikrokosmos sehr feinfühlig aus der Sicht der Betroffenen. David, der Vater der Familie, will die Gemeinschaft mit den Nachbarn aufrechterhalten. Doch manche von ihnen haben bereits einen Vertrag für die Umsiedlung und den Bezug einer Sozialwohnung unterschrieben; einige sind sogar schon umgezogen. Davids Frau sieht die Vorteile einer neuen Wohnung mit fließendem Wasser und Strom, der nicht mit dem Dieselgenerator erzeugt werden muss. David aber hat Angst um den Zusammenhalt der Familie; sein ältester Sohn könnte dann nicht mehr mit seiner Frau und dem kleinen Enkel bei ihnen leben, sondern in einer eigenen Wohnung weit weg von den Eltern.

„La última primavera“ erzählt vom familiären und nachbarschaftlichen Zusammenhalt, aber auch von Konflikten und Auseinandersetzungen. So hat sich Davids Schwiegertochter Maria mit ihrer Familie und besonders ihrer Mutter überworfen, weil sie das kleinbürgerliche Wohnviertel verlassen hat und zur Familie ihres Mannes in die verhasste „Zigeunersiedlung“ gezogen ist.

Wie ein Damoklesschwert

Das drohende Ende der Siedlung „La Cañada Real“ hängt wie ein Damoklesschwert über der Gemeinschaft. Besonders die Älteren sind skeptisch über die soziale Zwangsintegration. Vieles ist hier zwar ärmlich und unvollkommen, aber das Miteinander der Generationen funktioniert. Dem steht gegenüber, dass die neuen Häuser bequemer sind, die Schule für die Kinder in der Nähe wäre und man nicht mehr eine Stunde bis zur nächsten U-Bahn-Station laufen muss. Das alles sind Vorteile, die auch viele der jungen Gitanos anerkennen. Allerdings können sie in den Neubauwohnungen nicht nach ihrer gewohnten Weise leben. Früher konnten die Schrotthändler ihr Material einfach beim Haus lagern; das ist jetzt nicht mehr möglich. Früher konnten sie auch die Musik laut stellen, und die Kinder konnten rennen, so viel sie wollten; jetzt müssen sie auf die Nachbarn Rücksicht nehmen.

Ein Junge aus der Siedlung besucht seinen besten Freund, mit dem er früher über Wiesen und Schrotthaufen getobt ist. In der neuen Sozialwohnung sitzen sie nebeneinander auf dem Bettrand und starren auf das laut piepsende elektronische Spielzeug. Die Sozialwohnungen sind gut gemeint, entpuppen sich aber als trostlose Behältnisse einer sozialen Verpflanzung, deren Erfolg höchst fragwürdig ist. Im Innenhof gibt es keine einzige Pflanze, nur gelben Split.

Dokumentarisches Reenactment

„La última primavera“ vermeidet es, Stellung zu nehmen, sondern schildert den Prozess in seinen unterschiedlichen Facetten. Die Regisseurin Isabel Lamberti lernte 2014 bei einem kurzen Dokumentarfilm die Familie Gabarre-Mendoza und deren Nachbarfamilien kennen und hielt den Kontakt. Als sie von der drohenden Umsiedlung erfuhr, beschloss sie, diesen Prozess zu dokumentieren beziehungsweise nachzustellen: „Alles ist Fiktion“, sagt die Regisseurin, „Alle Hauptpersonen geben ihre Persönlichkeit und ihre Lebensgeschichte in eine fiktive Nachinszenierung ein.“ Denn dokumentarisch konnte nichts mehr gedreht werden, da die Umsiedlung schon weit fortgeschritten war. Allerdings sind nur die beiden Polizisten zu Beginn des Films Schauspieler, alle anderen, auch die Sozialarbeiter, spielen sich selbst.

„La última primavera“ lebt von der spannenden Mischung einer geradezu dokumentarischen Kamera und dem Familiendrama mit einem Ensemble überzeugender Laiendarsteller. Mit lebendiger, teilweise auch elliptischer Montage erzählt Lamberti sehr vielschichtig von der verordneten Integration einer ethnischen Minderheit, von der Konfrontation zweier Lebensformen, der archaischen Großfamilie gegen den individualisierten Sozialstaat. Über diesen Mikrokosmos hinaus steht der Prozess exemplarisch aber auch für die radikale Modernisierung Spaniens in den vergangenen Jahrzehnten sowie dem Verschwinden traditioneller Lebensformen.

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