Dass das Böse in dem Film von Ryusuke Hamaguchi nicht existiert, sollte man nicht von vornherein glauben. Dennoch ist nichts Metaphysisches an diesem Film. Das „Böse“, wenn es eines geben sollte, ist nicht jenseits, sondern diesseits der Baumkronen, unter denen in den ersten Minuten die Kamera entlangfährt, den Blick auf den grauen, leergefegten Himmel gerichtet. Es liegt im Bereich der Menschen und ihres Daseins, im Bereich der Tiere und der Natur. Noch genauer gefasst, liegt es im Blick der Kamera, ihrem Standpunkt – und nicht dort oder in dem, was sie betrachtet. Das Böse liegt im Blick des Betrachters, nicht in der Natur der Dinge.
Der Film spielt in einer winterlichen, sonnendurchstrahlten Waldidylle in den japanischen Bergen. Die Menschen führen hier ein einfaches, glückliches Leben. Takumi (Hitoshi Omika), ein alleinerziehender Vater, der mit seiner jungen Tochter abgeschieden im Wald haust, hackt Holz. Das Wasser für die Nudelsuppen kommt direkt aus der Quelle; im Wald wächst wildes Wasabi. Wenn das „Böse“ in dieses Paradies Einzug hält, dann unter zwei Vorzeichen. Zum einen will eine Künstleragentur hier mit Corona-Subventionen eine „Glamping“-Anlage bauen, die „Glamour“ und „Camping“ vereint und für die Umwelt eine hohe Belastung darstellen wird. Zum anderen ist der Wald, in dem Takumis Tochter oft allein unterwegs ist, bei aller Schönheit nicht ungefährlich.
Nie weiß man, was als nächstes kommt
Ryusuke Hamaguchi ist ein hervorragender Regisseur. Seine Mise-en-scène ist klar und transparent; er filmt in großzügigen, weiten Einstellungen, die nie etwas Allgemeines haben, sondern absolut präzise sind. Die Position der Kamera bleibt entspannt, ohne den Figuren allzu sehr auf die Pelle zu rücken. Es gibt eine ruhige Perfektion in den Filmen von Hamaguchi, und einen exakten Rahmen um die Charaktere, in dem Ambivalenzen und Fluktuationen ihren Platz haben.
„Evil Does Not Exist“ hätte eine durchschaubare ökologische Fabel darüber werden können, wie geldgierige Kapitalisten in die Umwelt eingreifen und sich eine naturverbundene Dorfgemeinschaft dagegen wehrt. Doch der Film entwickelt sich nicht entlang einer starren Drehbuchmechanik, sondern entlang von Objekten, Spuren, narrativen Abbiegungen und Assoziationen. Hamaguchi erforscht Wege ins Unvorhersehbare, die zu Fuß durch den Wald oder mit dem Auto auf der Straße zurückgelegt werden. Oder die durch das Auffinden von Federn oder Rehspuren im Schnee entstehen. Nie weiß man, was daraus wird.
Spontan verlässt der Film das Dorf, folgt den Abgesandten der dubiosen Agentur, die zu einem Bürgergespräch in die Berge gekommen sind, nach Tokio zu einer Videokonferenz. Die Veränderungen in der Erzählung werden bei Hamaguchi durch Mikroereignisse im Bild herbeigeführt, die überdeutlich und zugleich doch subtil sind. Fährt ein Auto auf einen Parkplatz und wieder weg, wird der Wagen von der Kamera empfangen, bevor sie sich umwendet und, den Blick aus der Rückscheibe imitierend, sich rückwärts in Bewegung setzt: synchron zur Weiterfahrt des Autos. Dessen Bewegung wird so ebenso verdoppelt wie umgekehrt. Nach dem Ende der Videokonferenz sieht man das Büro auf einem (im Büro aufgestellten) Fachbildschirm; hinter dem rauchenden Chef in Denkerpose befindet sich ein Gemälde, das einen rauchenden Mann in Denkerpose zeigt.
Verdopplungen und Verschiebungen
Diese ironischen Verdoppelungen sind in Wahrheit Verschiebungen, die das Bild von sich selbst ablösen und eine andere Schicht, eine „Rückseite“ des gezeigten Realen offenbaren; die Figuren werden dabei von ihrem vorgegebenen Pfad ab- und neuen Möglichkeiten zugeführt. Die beiden Agenturvertreter, ein Mann und eine Frau, sind Schauspieler, deren „Glamping“-Mission mit ihren ursprünglichen Berufen oder ihrem jetzigen Beruf im „Showbusiness“ nichts zu tun hat. Auf einer langen Autofahrt von Tokyo in die Berge erzählen sie aus ihrem Leben. Sie machen sich über den Job lustig und entwickeln neue Ideen für ihre Zukunft. Der Mann überlegt, sich selbst in dem Dorf niederzulassen.
Wie schon in „Drive My Car“ oder anderen Filmen von Hamaguchi sind die Personen ohne Unterlass mit einem Sprechen konfrontiert, das ihre Beziehungen verkompliziert. Takumi und die Dorfbewohner bringen ohne Unterlass neue Argumente hervor, die dem wenig durchdachten Plan der Glamping-Anlage entgegenstehen. Die Sprache der „Eindringlinge“ stößt noch dort auf Widerstand, wo diese sich den Einheimischen annähern und die lokale Nudelsuppenspezialität als „wärmend“ loben, während der Wirt korrigiert, bei dem Gericht ging es nicht um Wärme, sondern Geschmack.
Eine Frage der Perspektive
Ebenso wie die Natur erzeugt die sprachliche Existenz der Menschen nichts fundamental „Böses“, sondern etwas Undurchdringliches und Opakes. Etwas, das sich entzieht und widersteht, aber gerade dadurch die Möglichkeit eröffnet, sich zu verändern, im Guten wie im Schlechten. Auf diese Weise kann jenseits der Entfremdung eine neue Gemeinschaft entstehen – oder zerfallen. Das Böse existiert nicht – nur die Möglichkeit, dass es existiert oder auch nicht. Diese Möglichkeit ist bei Hamaguchi ganz und gar eine Angelegenheit der Perspektive: der Kamera oder des Bildes. Des Kinos also, das auch eine Sprache ist.