Gebrandmarkt: Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika

Dokumentarfilm | USA 2023 | 91 Minuten

Regie: Roger Ross Williams

Ein essayistischer Dokumentarfilm über die jahrhundertelange Geschichte des Rassismus von der europäischen Kolonialisierung bis zur Gegenwart. Anhand von viel Bildmaterial und klugen Bemerkungen von Experten, gegliedert in unterschiedliche thematische Kapitel, die jeweils Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen, enttarnt der Film Mythen, Vorurteile und Stereotypen aus der Geschichte, in der Popkultur und im Alltag. Lediglich die mitunter etwas zu schnelle Montage, die das Material eher zu einem affektiven Bilderstrom als zu einer nachvollziehbaren Argumentationskette verdichtet, führt dazu, dass manche Themen indifferent und oberflächlich beleuchtet werden. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
STAMPED FROM THE BEGINNING
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Netflix/story27/One Story Up
Regie
Roger Ross Williams
Buch
Ibram X. Kendi · David Teague
Schnitt
John S. Fisher
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Ein dokumentarisch-essayistischer Film über die Geschichte rassistischen Gedankenguts in den USA.

Diskussion

Je länger Mythen zirkulieren, desto seltener hinterfragt man sie. Der afroamerikanische Professor Ibram X. Kendi hat mit dem 2016 veröffentlichten Sachbuch „Stamped from the Beginning: The Definitive History of Racist Ideas in America“ versucht, zahlreichen Mythen über Schwarz- und Weißsein in den USA aufzudecken. Auf Basis dieser Überlegungen liefert Regisseur Roger Ross Williams nun einen Dokumentarfilm auf Netflix. Statt rein chronologisch durch die Geschichte zu gehen, hat Williams sich entschieden, die verschiedenen rassistischen Mythen, Vorurteile und Stereotypen als Kapitelunterteilung zu nutzen. Das ermöglicht ihm, Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen.

„Black-faced“ Mickey Mouse

Gleich im Prolog zeigt eine wilde Montage allerlei diskriminierende Klischees aus Film, Fernsehen, Werbung und Kunst: Melone essende, laut lachende, expressiv tanzende schwarze Menschen. Dazwischen sieht man „black-facing“ – also dunkel geschminkte weiße Personen. Auch eine Mickey Mouse bedient sich dieser rassistischen Praxis aus der Theaterwelt. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem Mythos des Schwarzseins als Konstrukt aus der europäischen Kolonialzeit. Eine der Wissenschaftlerinnen, die als „Talking Heads“ ihre Expertise in den Film einbringen, sieht in Heinrich von Portugal (1394-1460) den ersten europäischen Händler mit afrikanischen Sklaven. Durch die Verschleppung über den Atlantik wurde aus deren vielfältigen kulturellen Hintergründen – Mula, Wolof, Mandinka etc. – eine Gemeinschaft auf Basis der Hautfarbe geformt.

Dass damit die Wirtschaft Europas und später der USA angetrieben wurde, ist bekannt. Weit weniger bekannt ist die Geschichte der Bacon Rebellion im 17. Jahrhundert, als sich afroamerikanische Sklaven und weiße Vertragsknechte gegen die weiße Elite zusammenschlossen. Hier sehen Kendi und Williams den Beginn des Konstrukts von Weißsein, denn die Elite reagierte auf den Aufruhr, indem sie den weißen Knechten entgegenkam und Privilegien einräumte, sprich Land-, Geld-, Sklavenbesitz, den schwarzen aber nicht, und zugleich mit dem „Virginia Slave Code“ von 1705 die Spaltung in Schwarz-Weiß verfestigte. Zwei Möglichkeiten blieben übrig, darauf zu reagieren: sich zu assimilieren oder alternative Strukturen zu bilden.

Lyrische Bilder und reißerische Montage

Der Dokumentarfilm geht beiden Wegen nach: Phillis Wheatly, die erste afroamerikanische Dichterin, musste 1773 ihren englischsprachigen Gedichtband verteidigen; Jahrhunderte später sieht man die Lyrikerin Amanda Gorman vor dem Capitol ihr Gedicht „The Hill We Climb“ rezitieren. Um Wheatly und später der Autorin Harriet Jacobs, die über ihre Vergewaltigung durch einen Plantagenbesitzer berichtete, in dem Doku-Essay auftreten zu lassen, wählt Regisseur Williams Animationen mit Pinselstricheffekt. Durch den damit einhergehenden V-Effekt können die grausamen Ereignisse direkt gezeigt, ohne reißerisch-naturalistisch ausgestellt zu werden. Doch diese subtile Ästhetik zieht sich leider nicht durch den ganzen Film.

Gerade wenn Williams zu viele Bilder von Reden, Polizeigewalt und Protesten aneinanderreiht, wird es unübersichtlich und leider indifferent zugunsten der affektiven Wirkung. Was schade ist angesichts der Dringlichkeit, die viele der angerissenen Facetten des Rassismus nach wie vor haben. Besonders das Kapitel vom Mythos des schwarzen Verbrechens ist ein brennend aktuelles Thema. Auch Hollywood-Filme bedienen diesen Mythos, und gerade deshalb wäre es wichtig gewesen, näher zu beleuchten, was und wie zum Beispiel Spike Lee und Barry Jenkins anders erzählen. Kurze Filmausschnitte dienen in Williams’ Bilderfluss indes weniger einer stringenten Argumentation als einem allgemeinen Stimmungsbild. Vielleicht müssen die alten Mythen über die Gründung Amerikas, über selbstlose weiße Retter und kriminelle Schwarze erstmal aus der Welt geschafft werden, um den Blick wieder freizubekommen.

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