Der Kolibri - Chronik einer Liebe

Drama | Italien/Frankreich 2022 | 126 Minuten

Regie: Francesca Archibugi

Ein episches Familien- und Liebesdrama, das als Porträt eines unerschütterlichen Mannes die Geschichte eines römischen Arztes und dessen unerfüllte Liebe zu einer Frau von den späten 1960ern über 50 Jahre hinweg erzählt. Die motivreiche Romanverfilmung ist wie ein Bewusstseinsstrom gestaltet und springt assoziativ durch Räume, Zeiten und Themen. Trotz einer kunstvollen Montage, einer eleganten Kamera und großenteils herausragenden schauspielerischen Leistungen hält der Film auf Distanz und findet in der Fülle seiner Motive und Anspielungen zu wenig Konstanz, um in Bann zu schlagen. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
IL COLIBRÌ
Produktionsland
Italien/Frankreich
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Fandango/Les Films des Tournelles/Orange Studio/Rai Cinema
Regie
Francesca Archibugi
Buch
Francesca Archibugi · Laura Paolucci · Francesco Piccolo
Kamera
Luca Bigazzi
Musik
Battista Lena
Schnitt
Esmeralda Calabria
Darsteller
Pierfrancesco Favino (Marco Carrera) · Nanni Moretti (Daniele Carradori) · Kasia Smutniak (Marina Molitor) · Bérénice Bejo (Luisa Lattes) · Laura Morante (Letizia Carrera)
Länge
126 Minuten
Kinostart
16.05.2024
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb

Episches Familien- und Liebesdrama um einen römischen Arzt und seine unerfüllte Beziehung zu einer geliebten Frau.

Diskussion

Ein Kolibri verwendet all seine Energie darauf, um an der Stelle zu bleiben, an der er sich gerade befindet. Das wirft Luisa ihrer großen Liebe Marco einmal vor, der den Spitznamen „Kolibri“ trägt, weil er als Kind so klein war. Die Beziehung der beiden spiegelt sich sinnbildlich in ihrem Vorwurf. Luisa und Marco lieben sich, seit sie sich als Jugendliche am Meer kennenlernten. Doch es bleibt über Jahrzehnte hinweg eine platonische, unerfüllte Liebe, die sich nicht in den Abgründen und Banalitäten eines gemeinsamen Lebens bewähren muss. Marco will es so: um Luisa oder seinen Traum von ihr nicht zu verlieren, um ihre Liebe zu konservieren. Denn Bewegung, das bedeutet in dem zugrundeliegenden Roman „Der Kolibri“ von Sandro Veronesi wie auch in der Adaption durch Francesca Archibugi allzu oft: Unglück.

Ein Fels in der Brandung

Tragische Geschehnisse, Zufälle und schicksalhafte Begegnungen bestimmen Marcos Weg; mehrere Frauen aus seiner engen Umgebung sterben vor der Zeit. Marco aber bleibt. Zwar eben wenig bewegungsfreudig, aber dafür als Fels in der Brandung, eine stabile Größe. Roman wie Film erzählen seine Lebens- und Familiengeschichte vom Grundschulalter bis zum Tod, von den späten 1960er-Jahren bis in die Gegenwart.

Schlaglichtartig vergegenwärtigt die Handlung Marcos Aufwachsen in einer bürgerlich-intellektuellen Familie, in der sich die Eltern ewig streiten. Es gibt: die psychisch instabile Schwester Irene, das schwierige Verhältnis zum Bruder Giacomo, die regelmäßigen Ferienaufenthalte am Meer und das punktuelle Glück mit Luisa. Seinen Beruf als Augenarzt, eine unglückliche Ehe mit der Stewardess Marina, die psychischen Eigenheiten seiner Tochter Adele und schließlich das fast symbiotische Verhältnis zu seiner Enkelin Mira.

Verhandelt werden dabei unterschiedlichste Arten von Beziehungen, (Familien-)Geheimnissen und Lügen. Hinzu kommen Verwandte, Freunde und Geliebte als stabilisierende oder auch hemmende Elemente. Es geht auch um Themen wie Vorhersehung und Schicksal, die Macht von Familienstrukturen, psychische Erkrankungen, Sterbehilfe. Plus: Marcos Kleinwüchsigkeit, der Modellbau als Versuch, das Leben zu bannen, Luftfahrt und illegales Pokerspiel.

Wie ein Bewusstseinsstrom

Man merkt dem Film an, dass er auf einem Roman beruht. So einiges hätte im Sinne der Stringenz gestrichen werden müssen, da es als Überbleibsel aus einem weitläufigeren Kosmos unverbunden in der Luft schwebt. Es ist ein epischer Stoff, der als Serie womöglich besser funktioniert hätte denn als ein zweistündiger Film. So bleibt etwa die Erzählung um Marcos Kleinwüchsigkeit seltsam folgenlos; ähnlich nebulös ist, was der Strang um Marcos illegale Pokerturniere erzählen will.

„Der Kolibiri“ ist wie ein Bewusstseinsstrom gestaltet, der zwischen Zeiten und Räumen hin und her springt. Das ist kunstvoll montiert und lässt immer wieder nicht gelebte Möglichkeiten aufscheinen. Andererseits erschwert dies die Nähe zu den Protagonisten und bedingt eine Distanz zu den interessanten, großenteils gut gespielten Figuren. Dabei zeigen gerade die ersten Minuten des Films, wie gut und effizient Archibugi atmosphärische Szenen und (historische) Settings zu kreieren vermag. Mit wenigen Federstrichen und in rasantem Tempo entwerfen sie und die elegante Kamera von Luca Bigazzi ein Milieu, eine Zeit und eine Familie, die unmittelbar in Bann ziehen.

Doch die zeitlichen und räumlichen Sprünge erweisen sich auf Dauer zu groß, um inhaltlich fokussiert zu bleiben. Ähnlich verhält es sich mit dem schicksalhaften Duktus des Dramas, den Anspielungen und Andeutungen, die eine Tragweite suggerieren, die der Film nicht einzulösen vermag. Glücklicherweise leuchtet immer wieder ein leiser Humor auf, der vor allzu viel Pathos bewahrt.

Leben heißt sich bemühen

Ein Ereignis ist hingegen Pierfrancesco Favino. Während die Jugendjahre von Francesco Centorame verkörpert werden, spielt Favino den Protagonisten als Erwachsener von etwa 30 Jahren an bis zu dessen Tod Mitte 60. Eine große Herausforderung, auch für die Maske, die mit Blick auf die Hauptfigur erstaunlich gut gelingt. Weniger stimmig „altert“ Bérénice Bejo als (erwachsene) Luisa, die als Figur zudem etwas blass bleibt – ein ewig fernes Traumbild. Kasia Smutniak als Marina glänzt mit einem feinnervigen, mitunter aber auch etwas zu exaltiertem Spiel. In der Rolle als Psychiater und Freund Daniele wirkt Nanni Moretti recht steif, während sich Laura Morante als Marcos selbstbewusste Mutter mit ihrem Film-Gatten Sergio Albelli leidenschaftliche Streitereien liefert.

Bleibt die Frage, was „Der Kolibri“ sein will: Das Porträt eines unerschütterlichen Mannes? Ein Familiendrama, eine (unmögliche) Lovestory? Die Erkundung von Schicksal und Vorsehung? In jedem Fall geht es um das Leben selbst, wie man es meistert, Tag für Tag. „Leben“, sagt Daniele einmal zu Marco, „heißt, sich zu bemühen“.

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