Der Nebelläufer

Drama | Schweiz 1995 | 92 Minuten

Regie: Jörg Helbling

Ein 15jähriger Junge, der nach dem Tod seines Vaters eine Identitätskrise erlebt, erfährt durch die Begegnung mit einem jungen drogenabhängigen Pater im Internat die schlimmen Folgen einer unheilvollen Lebenslüge. Schließlich kommt er der Wahrheit über den Tod seines Vaters, der Selbstmord begangen hat, auf die Spur. Ein sehr sensibel gestalteter Film, der den Einfluß Kieslowskis erkennen läßt, zugleich aber einen durchaus eigenen Stil entwickelt. Überzeugend vor allem durch seine dem Inhalt vollkommen entsprechende visuelle Umsetzung, die musikalische Untermalung sowie die ausdrucksstarke Präsenz des jungen Hauptdarstellers. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
DER NEBELLÄUFER
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Edi Hubschmid AG/Imago-Z/Teleclub AG
Regie
Jörg Helbling
Buch
Jörg Helbling
Kamera
Peter Indergand
Musik
Louis Crelier
Schnitt
Urszula Lesiak
Darsteller
Lawrence Grimm (Michi) · Barbara-Magdalena Ahren (Mutter) · Roeland Wiesnekker (Pater Lorenz) · Lilian Fritz (Marenka) · Paul Lohr (Präfekt)
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Der 15jährige Michi steckt in einer Identitätskrise. Den Tod des Vaters, über den in der Familie nicht offen gesprochen wird, hat er nicht überwunden. Den Geliebten der Mutter kann er nicht akzeptieren. Nur zu seiner bereits erwachsenen Schwester Lisa hat er ein engeres Verhältnis. Lisa steckt jedoch selbst in Schwierigkeiten. Sie erwartet ein Kind, aber ihr Freund hat sie schmählich im Stich gelassen. Bei einer Hochzeitsfeier lernt Michi erstmals seine Verwandten kennen. Seine Großmutter väterlicherseits macht Andeutungen über Konflikte, die es ihr verwehrt hätten, seine Großmutter zu sein.

Als Michi einen Selbstmordversuch unternimmt, schickt ihn die Mutter auf ein Internat, das von Franziskanern geleitet wird. Dort herrschen unter den Jungen rauhe Töne, die dem sensiblen Michi zu schaffen machen. Einer der Lehrer, der junge Pater Lorenz, der bei den Schülern nur verächtlich "der Schleicher" genannt wird, versucht, die Schüler durch offenen Umgang mit Fragen der Sexualität und persönliche Bekenntnisse seiner eigenen pubertären Erfahrungen anzusprechen, wird aber nicht akzeptiert. In der Tanzstunde knüpft Michi zarte Kontakte zu einem stummen polnischen Mädchen. Als der Präfekt, der auf eine strenge Einhaltung der Ordnung bedacht ist, ein Halstuch des Mädchens bei Michi entdeckt, wird die Tanzstunde für alle Internatsschüler gestrichen. Michi revoltiert und landet auf der Krankenstation. Eines Nachts entdeckt er, daß Pater Lorenz sich heimlich Morphiumspritzen setzt. Der Pater steht in einem schweren Kampf, er spricht von einer Lebenslüge, die er nicht überwinden kann. Sein Zustand verschlechtert sich, und eines Morgens bricht er beim Gottesdienst am Altar zusammen. Der Präfekt verordnet Michi Stillschweigen über die "Krankheit" des jungen Ordenspriesters. Pater Lorenz versucht, mit Michi ins Gespräch zu kommen, doch der bleibt auf Distanz. Pater Lorenz ist es auch, der Michi den Hinweis gibt, daß Marenka, das Mädchen, in das er sich in der Tanzstunde verliebt hat, im Internat als Küchenhilfe arbeitet. Um in Kontakt mit ihr treten zu können, beginnt Michi sogar die Taubstummensprache zu lernen. Der Orden beschließt, Pater Lorenz vorübergehend "zur Kur" zu schicken. Doch dazu kommt es nicht mehr. Nachdem er sich von der Klasse verabschiedet hat, findet ihn Michi wenig später erhängt im Wald. Nach der Begegnung mit dem Tod macht Michi die Erfahrung der Liebe. Nachts kommt es zu einer Annäherung und einer zarten sexuellen Begegnung mit Marenka, die mit einem Eklat endet, weil der Präfekt die beiden im Bett ertappt. Michi wird daraufhin von seiner Mutter nach Hause geholt. Erstmals ist er in der Lage, sie auf den Tod des Vaters anzusprechen, weil er inzwischen weiß, daß der angebliche Unfall des Vaters ein Selbstmord war. Weinend schließt ihn die Mutter in die Arme und gesteht, daß sie ihm die Wahrheit verschwiegen habe aus Furcht, er könne einen ähnlichen Weg nehmen. Michi soll eine Banklehre aufnehmen, er akzeptiert dies, verlangt aber, daß er in der Wohngemeinschaft mit seiner Schwester Lisa leben darf.

Der 1955 geborene Schweizer Filmemacher Jörg Helbling, der mit diesem Film 1996 den Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken gewann, arbeitete als Filmkritiker und Autor filmtheoretischer Beiträge und wirkte als Co-Autor und Co-Regisseur bei den Projekten anderer Regisseure, vor allem Beat Lottaz', mit, bevor er den "Nebelläufer" realisierte. Im Abspann ist zu lesen, daß Krzysztof Kieslowski als Supervisor bei der Drehbucherarbeitung mitgewirkt hat. Auch wenn der Name Kieslowski erst an dritter Stelle genannt wird, ist er doch unverkennbar das große Vorbild. In der Art der Entwicklung der Geschichte, in der auf Andeutungen reduzierten Erzählweise, in dem sparsamen Umgang mit Dialogen zeigt sich der Einfluß Kieslowskis deutlich. Überdies orientiert sich der Kameramann Peter Indergand eindeutig am Stil von Slawomir Idziak, vor allem in der starken Betonung der Schatten und in der auf die Hervorhebung der wesentlichen Details setzenden Lichtgebung und nicht zuletzt in der grünlichen Beleuchtung vieler Szenen. Helbling ahmt sein Vorbild jedoch nicht einfach nach, sondern entwickelt seinen eigen Stil, der der Geschichte angemessen ist. Seine Hauptfigur, der "Nebelläufer", findet sich in einer Welt wieder, in der es keine klare Sicht gibt. Überall versperren Schweigen und Lügen den Blick auf die Wahrheit. Michi, ein überaus sensibler und in sich gekehrter Junge, erlebt die Welt als Beobachter. Seine oft heimlichen Blicke durch geöffnete Türen, durch das Zielfernrohr seines Luftgewehrs, durch geriffeltes Fensterglas enthüllen ihm immer nur einzelne Fragmente der Wirklichkeit. Mögen manche Dialogsätze mitunter noch etwas hölzern wirken, so überzeugt der Film doch durch seine visuelle Umsetzung, die dem Inhalt vollkommen entspricht. Nicht zuletzt ist es das sich dem Zuschauer einprägende Gesicht des jungen Hauptdarstellers, das die inneren Spannungen deutlicher macht, als es viele Worte jemals könnten. Die Fürbitte, die Pater Lorenz am Altar spricht, bevor er zusammenbricht, die Bitte, daß es in den Familien gelingen möge, Konflikte nicht zu verdrängen, sondern Schritte aufeinander hin zu wagen, kann man als Motto des Films verstehen, der ein überaus beachtliches Erstlingswerk ist, das auf weitere Arbeiten des Regisseurs gespannt macht.
Kommentar verfassen

Kommentieren