Scarred Hearts - Vernarbte Herzen

Drama | Rumänien/Deutschland 2016 | 147 Minuten

Regie: Radu Jude

In einem Sanatorium am Schwarzen Meer verliebt sich Ende der 1930er-Jahre ein an Knochentuberkulose erkrankter junger Mann in eine Patientin. Obwohl selbst ans Gipsbett gefesselt, kommt er ihr näher, auch weil Lebensmut und Lebenshunger seine intellektuelle Fantasie beflügeln. Das visuell und erzählerisch geschickt austarierte Zeitgemälde nimmt mit großer Gestimmtheit die Perspektive des feingeistigen Protagonisten ein, wobei Texttafeln aus dem zugrundeliegenden Werk des jüdisch-rumänischen Autors M. Blecher seine Gedanken zusätzlich entfalten. In Gesprächen und Diskussionen wird der weltentrückte Ort zum zeitgenössischen Spiegel der Welt am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
INIMI CICATRIZATE
Produktionsland
Rumänien/Deutschland
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Hi Film Prod./Komplizen Film/CNC
Regie
Radu Jude
Buch
Radu Jude
Kamera
Marius Panduru
Schnitt
Catalin Cristutiu
Darsteller
Lucian Teodor Rus (Emanuel) · Ivana Mladenovic (Solange) · Marius Damian (Nelu) · Bogdan Cotlet (Victor) · Gabriel Spahiu (Zed)
Länge
147 Minuten
Kinostart
09.02.2017
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Real Fiction (FF, DD5.1 rum.)
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Glänzendes Drama aus einem rumänischen Sanatorium

Diskussion
Im blauen Kleid und mit roten Fingernägeln sitzt eine junge Frau neben einem Bett, die Farben korrespondieren mit dem Senfgelb der Tagesdecke und der türkisblauen Wand dahinter. Eine Einstellung wie ein Gemälde. Regisseur Radu Jude hat „Scarred Hearts - Vernarbte Herzen“ auf 35mm gedreht, die Leinwand zeigt ein 4:3-Format mit abgerundeten Ecken. Der Vorspann streift über Notizen, surrealistische Skizzen und Zeichnungen des jüdisch-rumänischen Autors M. Blecher (1909-1938), auf dessen literarischen Schriften der Film beruht, so auch auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman, der in Rumänien und Deutschland erst ab den 1990er-Jahren wiederentdeckt wurde. Wie Emanuel, die Hauptfigur im Film, war M. Blecher an Knochentuberkulose erkrankt. Emanuel wird von seinem Vater, einem jüdischer Kaufmann mit zupackendem Wesen und schwarzem Humor, in ein Sanatorium am Schwarzen Meer gebracht. Er ist ein ebenso fein- wie scharfsinniger junger Mann, ein guter und genauer Beobachter, der Literatur zugewandt. Mit seinem Vater teilt er den Galgenhumor. Seine Krankheit bringt schwere Entzündungen mit sich. Um die Wirbelsäule nicht zu verletzen, wird sein Oberkörper in Gips gelegt – fortan ist er vollkommen ans Bett gefesselt, das von den Pflegekräften durch die langen, lichten Gänge des Sanatoriums geschoben wird. Von den Wänden blättert die Farbe, eine zeigt ein Greta-Garbo-Poster: Das Leben ist hier durchaus nicht ausgesperrt. Ganz im Gegenteil: Die jungen Patienten scheint ausnahmslos jung und wohlsituiert zu sein – wer sonst könnte sich einen monate-, oft jahrelangen Aufenthalt im Sanatorium leisten? Sie haben Lebensmut und Lebenshunger, der nur langsam schwindet, vielleicht mit der Zahl der Mitpatienten, die sie sterben sehen. Andere aber gesunden, zumindest fast, wie die junge Frau im blauen Kleid, die sich Solange nennt und die Emanuels Geliebte wird. Sie trägt eine Beinprothese, das sieht man an ihrem ausholenden Gang und spätestens beim Sex, den sie und Emanuel in seinem Krankenzimmer haben – eine so humorvolle (der Gips drückt) wie anrührende und auch erotische Szene, die unwillkürlich an David Cronenbergs „Crash“ (1995, (fd 32 192)) erinnert. Wie in Judes vorhergehendem Film „Aferim!“ (2015) ist „Scarred Hearts – Vernarbte Herzen“ ein Zeitengemälde. Während „Aferim!“ eine Epoche der rumänischen Geschichte als düster-satirischen Western entfaltet, rückt „Scarred Hearts – Vernarbte Herzen“ die Figur des jüdischen Intellektuellen an einem weltentrückten Ort ins Zentrum, weniger seine Figur als seine Introspektion, seine Gedanken. Dies geschieht mit einem eigenwilligen Kunstgriff, der aufregend gut funktioniert: Jude blendet Texttafeln mit Ausschnitten aus M. Blechers Werk ein, die nicht abgeschlossen sind, sondern manchmal nur aus Satzfetzen bestehen. Sie deuten atmosphärisch Gefühle, Gestimmtheiten an und ziehen den Zuschauer mit in die Perspektive des Bettlägerigen, verfeinert Beobachtenden. Die meist statischen Einstellungen verstärken den Effekt. Dazu ist auch die Filmlänge von mehr als zwei Stunden unbedingt notwendig; der Film könnte fast noch länger sein. Hauptdarsteller Lucian Teodor Rus geht ganz in seiner Figur auf und drückt vornehmlich über die Mimik die fast sezierend genau, ohne jede Sentimentalität beschriebenen Gefühle aus. Auf emotionalisierende Filmmusik verzichtet Radu Jude komplett. Manchmal spielt das Grammofon, das Emanuel sich schicken ließ, manchmal wird gesungen. Was im Hintergrund passiert, was der Arzt, die Pfleger, Krankenschwestern und Mitpatienten reden, ist fast ebenso wesentlich wie das Geschehen im Vordergrund. Es werden Partys gefeiert, mit viel Wein und Flaschendrehen. Es geht um Politik, um den Aufstieg Hitlers, um Juden oder Roma, Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus. Der weltentrückte Ort wird zum Spiegel der Welt, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs.
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