Drama | USA 2014 | 166 Minuten

Regie: Richard Linklater

In zwölf Drehjahren mit denselben Schauspielern realisierte Richard Linklater einen Spielfilm über Kindheit und Jugend eines Jungen, der mit seiner Schwester und Mutter in Texas aufwächst. Von der Einschulung bis zum College sowie in vielen Gesprächen und Alltagssituationen entfaltet sich die fesselnde Reduktion auf das „gemeine Leben“, höchstens torpediert von den Erfahrungen eines Scheidungskindes. Mit hervorragend geschriebenen und gespielten Familienfiguren greifen der dokumentarische Gestus und der fiktive Inhalt in der Langzeitinszenierung virtuos ineinander und zeigen selten zu beobachtende Bilder des Heranwachsens. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
BOYHOOD
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Boyhood Inc./Detour Filmprod.
Regie
Richard Linklater
Buch
Richard Linklater
Kamera
Lee Daniel · Shane F. Kelly
Schnitt
Sandra Adair
Darsteller
Ellar Coltrane (Mason) · Patricia Arquette (Olivia) · Ethan Hawke (Mason senior) · Lorelei Linklater (Samantha) · Tamara Jolaine (Tammy)
Länge
166 Minuten
Kinostart
05.06.2014
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Universal (16:9, 1.85:1, DD5.1 engl./dt.)
Verleih Blu-ray
Universal (16:9, 1.85:1, dts-HDMA engl., dts dt.)
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Diskussion
Man ahnte es, als er mit „Slacker“ 1991 seinen ersten Kinohit landete; ganz sicher wurde man, als er 1995 mit „Before Sunrise“ (fd 31 270) den ersten seiner drei Beziehungsfilme mit Ethan Hawke und Julie Delpy vorstellte: Richard Linklater ist ein einmaliger und großartiger Erzähler ganz normaler Begebenheiten. An seinem Film „Boyhood“ hat Linklater von 2002 bis 2014 gearbeitet, also in der Zeitspanne, in der er außerdem Filme wie „Before Sunset“ (fd 36 533), „Fast Food Nation“ (fd 38 048) oder „Before Midnight“ (fd 41 748) realisierte. Man kennt ähnliche Langzeit-Projekte, zum Beispiel die „Die Kinder von Golzow“. „Boyhood“ aber ist kein Dokumentarfilm, sondern Fiktion. Er handelt von der Kindheit und der Jugend eines Jungen, der zum Mann heranreift; Thema ist das alltägliche Erleben. Mason, so der Name des Jungen, hat eine Schwester, Samantha (Lorelei Link­later), und eine Mutter namens Olivia. Auch sein Vater heißt Mason – gespielt werden die Eltern von Patricia Arquette und Ethan Hawke. Mason ist zu Beginn des Films sechs Jahre alt, er wohnt mit Schwester und Mutter in Austin, Texas. Die Eltern sind geschieden, der Vater ist vor einigen Monaten nach Alaska verschwunden. Die Kinder gehen zur Schule, Olivia jobbt. Es gibt Abendbrot, Frühstück, Mason stromert mit einem Nachbarsjungen durchs Viertel, zankt sich mit seiner Schwester. Und dann wird, wie immer bei Linklater, den ganzen Film hindurch oft und ausgiebig miteinander geredet. Beim Essen zu Hause, in einem Lokal, beim Autofahren, manchmal auch beim Gehen, Wandern, Spazieren, sowie in einer schlaflosen Nacht, die Mason 16-, 17-jährig mit seiner ersten Freundin in einer fremden Stadt verbringt. Es sind Stimmungsbilder, die Linklater serviert, kurze Episoden aus dem Leben, Jahr für Jahr innerhalb jeweils weniger Tage gedreht. Sie fokussieren sich, auch das ist unverkennbar Linklater, nicht auf die Highlights des Lebens, sondern charakterisieren in beiläufiger Schilderung ihre Figuren, so auch die lebenstüchtige Olivia, die sich nach einem Partner sehnt, gleichwohl aber ihren Kindern lieber aus „Harry Potter“ vorliest, als dass sie sich ins Nachtleben stürzt. Olivia nimmt kurz nach der Trennung ihr Studium wieder auf, zieht mit den Kindern nach Houston. Sie lernt Bill kennen, heiratet. Bis die Situation wegen Bills Alkoholsucht eskaliert, bildet man mit ihm und seinen Kindern eine Patchwork-Familie. Die Trennung ist brutal, radikal, eine der wenigen heftigen Szenen des Films, der danach beiläufig weitergeht. Noch einmal zieht die Familie um. Olivia tritt eine neue Stelle an, findet erneut einen Partner. Mason will unterdessen Fotograf werden, erlebt seine erste Liebe, Samantha geht aufs College. Einschneidend dann Masons Auszug von zu Hause. „War das alles?“, fragt Olivia, und: „Ich habe mehr erwartet.“ Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie allein. Ja, es ist nicht mehr drin, in einem gewöhnlichen Leben. Und doch ist es wunderbarerweise just dieses kleine, gemeine Leben, das Linklater in „Boyhood“ in so absolut faszinierender Weise vorführt. Ab und zu taucht der Vater auf. Er holt die Kinder für ein paar Stunden, einen Abend, ein Wochenende. Und auch er, der in jungen Jahren als abenteuerlustiger Musiker zugleich als Vaterfigur kaum zu taugen schien, schließlich aber eine Vertreter-Laufbahn einschlägt und nochmals eine Familie gründet, ist eine starke Figur. Ihm gehören einige der schönsten Szenen des Films: Eine Nacht am Lagerfeuer, eine peinliche Aufklärungssituation in einem Diner, einige großartige Vater-Sohn-Gespräche, die sich in Masons Kindheit um Elfen, später ums Leben schlechthin und dann um den Umgang mit dem anderen Geschlecht drehen. Einmal wird Mason sauer auf Papa, weil dieser den GTO, den Mason so gerne gehabt hätte, gegen eine Familienkutsche eingetauscht hat. Wie gesagt: Nichts als das gemeine Leben, nichts als eine normale Kindheit in Amerika bringt Linklater auf die Leinwand. Und doch ist „Boyhood“ alles andere als ein gewöhnlicher Film. Er ist dies vor allem deswegen nicht, weil er, bedingt durch die über Jahre sich erstreckende Drehzeit, vorführt, was so kaum je zu sehen ist: das Heranwachsen und Reifen eines Menschen. Am schönsten zu beobachten ist dies in Masons Gesicht, das sich vom weich-verträumten Bubengesicht über das verschlossen-verquollene Gesicht eines Teenagers in das wieder offenere und klarere eines jungen Erwachsenen verwandelt. Masons Gesicht ist dasjenige des heute 20-jährigen Ellar Coltrane, der vielleicht tatsächlich Schauspieler wird; auf alle Fälle war er auch in Linklaters „Fast Food Nation“ anzutreffen.
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