Dokumentarfilm | Deutschland 2015 | 93 Minuten

Regie: Rosa von Praunheim

Rosa von Praunheim dramatisiert die Lebensgeschichte eines Berliner Kampfsportlers, der nach einer von Missbrauch und Gewalt geprägten Kindheit und einer Karriere als Zuhälter im Gefängnis „geläutert“ wurde und sich nun für missbrauchte Kinder einsetzt. Dabei rückt vor allem die ambivalente Beziehung zu seiner langjährigen Lebensgefährtin in den Blickpunkt, einer unsicheren Frau, die sich trotz allem von ihm beschützt und gehalten fühlt. Die Mischung aus Interview-Sequenzen und nachgestellten Schwarz-weiß-Szenen in stilisierten Pappkulissen und mit theaterhaft überzeichneten Charakteren lenkt den Blick eindrucksvoll auf den emotionalen Kern der Geschichte. Sensibel in der Darstellung des Missbrauchs und glaubwürdig gespielt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Rosa von Praunheim Filmprod./WDR/rbb/arte
Regie
Rosa von Praunheim
Buch
Nico Woche · Rosa von Praunheim · Jürgen Lemke
Kamera
Nicolai Zörn · Elfi Mikesch
Musik
Andreas Wolter
Schnitt
Mike Shepard
Darsteller
Hanno Koffler (Andy) · Luise Heyer (Marion) · Katy Karrenbauer (Mutter) · Rüdiger Götze (Opa) · Ilse Bendin (Oma)
Länge
93 Minuten
Kinostart
23.04.2015
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm | Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
missing films (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
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Rosa von Praunheims vielschichtiges dokumentarisches Porträt eines geläuterten Kampfsportlers

Diskussion
Andy schickte sie auf den Strich und schlug sie, weil sie an Weihnachten lieber feiern als anschaffen wollte. Er hatte andere Frauen, schrie sie wegen Nichtigkeiten an. Wirklich schlimm fand es Marion aber nur, als sie einen traumatischen Gerichtsprozess durchstehen musste – und der als mentale Unterstützung gedachte Andy während der Verhandlung einfach davonlief. Darüber sagt sie heute: „Ich habe ihm fast alles verziehen, aber das hier war ziemlich schwer für mich.“ Marion Erdmann ist die interessanteste, am schwersten zu greifende Figur in Rosa von Praunheims Film, einer Mischung aus Interviewsequenzen und nachgestellten Szenen. Marion Erdmann ist die Lebensgefährtin von Andreas Marquardt, der nach einer von sexuellem Missbrauch durch die Mutter und Gewalt durch den Vater geprägten Berliner Kindheit zum knallharten Zuhälter aufstieg. Und der schließlich während einer achtjährigen Gefängnisstrafe eine Therapie machte und „geläutert“ wurde: Heute trainiert Marquardt in seiner Kampfsportschule Kinder und Jugendliche, unterstützt zwei Stiftungen für missbrauchte Kinder und sagt: „Solange ein Kind Schmerzen ertragen muss oder sexuell missbraucht wird, ist unsere Scheißwelt nicht in Ordnung.“ Marion Erdmann sagt über ihren einstigen Zuhälter: „Das Wichtigste war, ihm zu entsprechen.“ Und steht auch heute noch lächelnd an seiner Seite, wenn er gönnerhaft ankündigt, aus ihr bald „Frau Marquardt“ machen zu wollen: „Und det hat se auch verdient!“ Dabei wirkt Erdmann, die Andy bereits mit 16 Jahren kennen lernte, keineswegs dumm. Aber gut darin, zu verdrängen, sich Dinge zurechtzurücken. In den nachgestellten Szenen wird sie von Luise Heyer gespielt, der es wunderbar gelingt, Marions Naivität und Ergebenheit zu zeigen und doch auch Stärke zu vermitteln. Die Geschichte des Andreas Marquardt ist ein Filmstoff, fast zu schön, um wahr zu sein. Solche Storys liebt das Kino: vom Saulus zum Paulus. Der schier unaufhaltsame Absturz. Dann die Kehrtwende, der Aufstieg zum guten Menschen, der die wahre Liebe entdeckt und sich nun um missbrauchte Kinder kümmert. Immerhin, eine gewisse Ambivalenz bleibt; Marquardt wirkt, gerade im Umgang mit seiner Lebensgefährtin, nicht nur sympathisch, auch eine gewisse Eitelkeit ist zu spüren. Rosa von Praunheim setzt diese Lebensgeschichte kongenial in Bilder um: Basierend auf der Autobiografie „Härte“, die Marquardt zusammen mit seinem Therapeuten schrieb, stellt er zwischen Papp-Kulissen Szenen aus Kindheit, Jugend, krimineller Karriere und Gefängnisaufenthalt nach. Und gerade in dieser Stilisierung gerät das ungemein eindringlich. Die auf Wände projizierten Kulissenbilder, die Schwarz-Weiß-Optik, die verfremdende Inszenierung, die statt auf Überwältigung auf theaterhaft arrangierte, mit groben Strichen gezeichnete Charaktere und Konstellationen setzt: Das alles lenkt den Blick umso mehr auf den emotionalen Kern der Geschichte. Den Missbrauch des Kindes Andy wiederholt von Praunheim nicht, indem er ihn voyeuristisch ausmalt. Stattdessen zeigt er in Point-of-view-Einstellungen aus der Perspektive des gesichts- und körperlos bleibenden Kindes, wie der Vater dem Sechsjährigen die Hand zerquetscht. Wie sich die Mutter, die ihn vom sechsten Lebensjahr an sexuell missbrauchte und schließlich ab zwölf Jahren zum „richtigen“ Geschlechtsverkehr nötigte, an ihm vergreift. Das dramatische Geschehen, der konkrete Übergriff auf das Kind findet außerhalb des Kamerabilds statt. Katy Karrenbauer, die man bislang eher mit RTL-Trash-TV verband, wirkt als Mutter mit ihrer toupierten 1960er-Jahre-Frisur in diesem (Kamera-)Blick durch die Augen des Kindes so horrorfilmhaft übermächtig und ekelerregend, wie es ein derart gepeinigtes Kind wohl wirklich empfinden mag. Erst als volljähriger Andy tritt Hanno Koffler auf den Plan, und er ist eine Wucht: Er spielt Andy ganz und gar körperlich, innerlich berstend vor Hass und Wut, äußerlich aber mit zur Schau gestelltem, unerschütterlichem Selbstvertrauen, dazu einsilbigem, bodenständigem Berlinerisch. Dass sich eine unsichere Frau wie Marion von diesem Mann beschützt und gehalten gefühlt haben mag, man kann es durch diese Leistung zumindest ansatzweise nachvollziehen.
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