Dokumentarfilm | Deutschland 2014 | 77 Minuten

Regie: Helen Simon

Aufwühlender Dokumentarfilm über eine Frau Mitte 50, die jahrelang von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde, dennoch ihre Erfahrungen verdrängte und den Vater verherrlichte. Erst als auch ihre eigene Tochter von ihm missbraucht wurde, zeigte sie ihn an, doch vor Gericht schenkte man ihr keinen Glauben; der Vater wurde freigesprochen, ihre Tochter nahm sich das Leben. Der Film bricht die persönliche Erzählung der Frau immer wieder durch weitere Quellen auf und vermittelt überzeugend die widersprüchlichen Angst- und Schuldgefühle missbrauchter Menschen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Filmallee - David Lindner Filmprod./Hochschule für Fernsehen und Film (HFF)
Regie
Helen Simon
Buch
Helen Simon
Kamera
Carla Muresan
Musik
Konstantin von Sichart
Schnitt
Nina Ergang
Länge
77 Minuten
Kinostart
02.04.2015
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion
Was für ein bestürzender, rat- und sprachlos machender Film. Was für ein Glücksfall von einer Dokumentation, die zur Sprache bringt, worüber, wenn auch aus nachvollziehbaren Gründen, viel zu lange geschwiegen wurde. Es geht um Verdrängung und um Erinnerung. Und um Abgründe, mit denen hinter einer geordneten Familienfassade gerechnet werden muss. Zu Beginn und am Schluss von „Nirgendland“ nähert sich die Kamera einem Einfamilienhaus in wohlsituierter Gegend und kommt am Gartentor zum Stehen. Im Abspann liest man, dass die Häuser keinen Bezug zur erzählten Geschichte hätten. Die Botschaft ist klar: Es geht hier auch um ein doppeltes Erinnern, denn nur teilweise kann man auf Briefe, Gerichtsprotokolle, Fotos und Privatfilme zurückgreifen; der Rest ist Erzählen. Tina, die einmal Karin hieß, wurde von ihrem Vater als Kind über viele Jahre sexuell missbraucht. Als ihre Mutter dahinterkam, riet sie ihr: „Wenn Du erwachsen bist, dann ist alles vergessen. Wenn Du geheiratet hast, dann ist alles vorbei. Dann erinnerst Du Dich eh nicht mehr.“ Die Mutter war bei Kriegsende nach Sibirien verschleppt worden und rechtfertigte ihren Ratschlag mit der Erfahrung, dass schnell stirbt, wer schreit. Tina, die die Geschichte im Wesentlichen erzählt, fühlte sich schuldig; sie verdrängte ihre Missbrauchserfahrungen so weit, bis sie sich selbst nicht mehr glaubte. Sie idolisierte ihren Vater, ging zeitweise zu ihrer Familie auf Distanz, dann wieder auf sie zu, konstruierte eine ideale Familie, die es so nie gab. Sie heiratete, als sie schwanger wurde, und war schnell wieder geschieden. Tochter Sabine, „Floh“ genannt, sollte es einmal besser haben. Doch Jahre später wird „Floh“ ebenfalls Opfer ihres Großvaters und schweigt nun ihrerseits, um die Mutter zu schützen. Die wiederum übersieht die Signale, die ihre Tochter sendet. Im Film sagt Tina: „Mit dieser Schuld muss ich jetzt leben. Der Schuld, dass ich nicht hingeschaut habe.“ „Floh“ flüchtet in Drogen und in die Prostitution. Erst ein paar Jahre später, als die junge Cousine in Gefahr steht, zum Opfer von Vater und Großvater zu werden, wagt sich „Floh“ endlich ans Licht und zeigt ihren Großvater an. Es folgt ein Gerichtsverfahren, in dem auch Tina gegen ihren Vater aussagt. Auf die Frage des Richters, warum „Floh“ sich ihrer Mutter nicht offenbart habe, antwortet die: „Ich konnte es ihr nicht sagen. Damit hätte ich die ganze Familie zerstört.“ Mit ihrer Anzeige „rettet“ die Tochter ein weiteres Mal die Mutter, die sich nun dem Verdrängten stellen kann. Erst durch die Aussage der Tochter, dass der Großvater sie missbraucht habe, konnte die Mutter sich durchringen, ihrer eigenen Erinnerung zu glauben. Beim Erzählen vor der Kamera bricht Tina immer wieder in Tränen aus. Helen Simons bestürzender Film versucht, Tinas Erzählungen durch die Einbeziehung anderer Quellen und Erzählungen zu objektivieren, er zeigt aber immer wieder auch Bilder aus Tinas Alltag. Ganz zu Beginn ist kurz vom Fall Kachelmann die Rede und von der Schwierigkeit der Gerichte, Verfahren angemessen zu verhandeln, bei denen es keine Zeugen gebe. Der Film selbst macht klar, wie psychologisch komplex und widersprüchlich sich die Situation für die Opfer darstellt, wie übermächtig ihnen der Täter erschienen sein muss. Als der Vater/Großvater schließlich in Untersuchungshaft saß, empfand Tina schon wieder Mitleid für ihn. Im direkten Vergleich zu Tinas Emotionen scheinen die Gerichtsprotokolle kalt und ohne jede Empathie. Wie stellt sich ein Gericht den Widerstand einer Enkelin vor, der der geliebte Großvater den Penis in den Mund zwingt? Was will das Gericht sagen, wenn es die Aussagen des Opfers, das jahrelang nicht grundlos geschwiegen hat, als „wenig detailreich“ bezeichnet? Haben sich „Prostitutionserlebnisse“ in „Flohs“ Erinnerungen gemischt? Am Ende hatte die Kammer „vernünftige Zweifel“ an den Anschuldigungen und sprach den Vater/Großvater frei. Man muss das so hinnehmen. Sabine „Floh“ Reuther aber nahm sich im Alter von 30 Jahren das Leben. Der Film ist ihr gewidmet.
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