Auf offener Straße

Krimi | Frankreich 1992 | 146 Minuten

Regie: Bertrand Tavernier

Als Polizist in einer Pariser Anti-Drogeneinheit lebt ein idealistischer Mittdreißiger seine Berufung aus. Das Team unterschiedlich motivierter und fähiger Kollegen kämpft gegen die ständig wachsende Drogenkriminalität, eine oftmals schwerfällige Bürokratie und nicht zuletzt gegen die eigenen Frustrationen, die in Gleichgültigkeit, Aggressivität und Konkurrenzdenken ihren Ausdruck finden. Ein brillant inszenierter Film über die alltägliche Arbeit einiger Polizisten, der auf konventionelle Spannungsbögen verzichtet und dem Rhythmus kurzfristiger Erfolge und Enttäuschungen folgt. Von wenigen Ruhepunkten abgesehen rasant geschnitten, in der Kameraführung stets hautnah, ist der Film durchgehend spannend, obwohl er auf genreübliche Action und Gewalt weitgehend verzichtet. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
L. 627
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
Little Bear/Les Films Alain Sarde/Canal +/Sofiarp/Sofica Investimage 3.
Regie
Bertrand Tavernier
Buch
Michel Alexandre · Bertrand Tavernier
Kamera
Alain Choquart
Musik
Philippe Sarde
Schnitt
Ariane Boeglin
Darsteller
Didier Bezace (Lucien "Lulu" Marguet) · Jean-Paul Comart (Dominique "Dodo" Cantoni) · Charlotte Kady (Marie) · Jean-Roger Milo (Manuel) · Nils Tavernier (Vincent)
Länge
146 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Krimi
Externe Links
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Diskussion
"Auf offener Straße" ist einer der besten Polizeifilme, die das Kino bislang hervorgebracht hat. Trotz seiner Länge extrem schnell, trotz fehlender "action" - nicht ein einziges Mal wird von der Schußwaffe Gebrauch gemacht - immer spannend. Die Gesetze einer klassischen Dramaturgie scheinen nicht zu gelten. Es "fehlt" die durchgängige Handlung, ein "echter" Schluß und nicht zuletzt ein konventioneller Beginn. Stattdessen eine wunderbare Einganssequenz: beinahe tänzerisch löst sich eine Gruppe von Personen aus dem nächtlichen Dunkel. Jugendliche, die Mauern und Autos mit Graffitis verzieren. In einem der besprühten Autos liegen zwei Schatten, kein heimliches Liebespaar, sondern Polizisten bei einer Observation. Einer verläßt den Wagen, trifft in einem düsteren Hauseingang einen Informanten. Die Verhaftung eines "größeren Fisches" steht unmittelbar bevor, als plötzlich ein angetrunkener Vorgesetzter den Wagen zurückbeordert, um damit seinen Heimweg anzutreten. Einer der observierenden Beamten, "Lulu" Marguet, findet deutliche Worte für den Vorgesetzten. Wenig später sitzt Lulu am Schreibtisch eines Nachbardezernats, strafversetzt.

Schon in diesen ersten Minuten ist vieles von dem enthalten, was die Faszination des Films ausmacht. Stets bleibt die Kamera auf der Höhe des Geschehens, schaut den Ermittlern bei der Arbeit buchstäblich über die Schulter oder streift ihre Gesichter, um flüchtige Reaktionen einzufangen - meist Verbissenheit, gelegentlich Resignation, ganz selten einmal Gelöstheit. Immer dann, wenn es hektisch wird, wenn eine Razzia oder Verhaftung unmittelbar bevorsteht, scheint auch die Kamera zunächst nicht zu wissen, worauf sie ihre Aufmerksamkeit zu richten hat. Tavernier drängt sein Publikum in die Rolle eines Reporters; eines Reporters, dem nichts erklärt wird, der sich aus den Eindrücken des Augenblicks sein eigenes Bild zusammensetzen muß.

Lulus Verbannung an den Schreibtisch währt nicht lange. Ein befreundeter Kommissar holt den als "Bullen aus Leidenschaft" bekannten Mittdreißiger in seinen Bezirk, teilt ihn einer kleinen Anti-Drogen-Einheit zu. Endlich kann sich Lulu wieder in dunklen Hauseingängen und U-Bahn-Stationen herumdrücken, mit Spitzeln verhandeln (ein wenig "Stoff aus der letzten Razzia als Dank für brauchbare Informationen), aus dem Wagen heraus kleinere Deals filmen. "Vielleicht bin ich ein Voyeur", erklärt Lulu seiner Frau. Neben Drogenhändlern filmt er bevorzugt Hochzeitsfeste, vom Polizistengehalt allein läßt es sich schlecht leben.

Daß Lulu verheiratet ist, erfährt man recht spät. Und das ist weit mehr, als über das Privatleben seiner engsten Kollegen bekannt wird. Marie, seine energiestrotzende stellvertretende Chefin, die um ihre Attraktivität weiß und sich unter lauter männlichen Kollegen sichtlich pudelwohl fühlt, gibt einem Liebhaber telefonisch den Laufpaß - auch hier wird der Zuschauer nur Zeuge, weil sich derlei Angelegenheiten im Büro regeln lassen (müssen), zwischen zwei Einsätzen, vor den Ohren der Kollegen. Taverniers Polizisten haben ,kein Privatleben, sie haben keine Vergangenheit (nur in Augenblicken ungewohnter Ruhe erfährt man Bruchstücke aus Lulus Kindheit) und blicken längst nicht mehr in die Zukunft. "Wenn unsere Tochter 11 Jahre alt wird, ziehen wir fort aus dieser Stadt", fordert Lulus Frau. Zweifel sind angebracht.

Wie man sich mit der Realität arrangiert, demonstriert Lulus Vorgesetzter Dodo. Der Enthusiasmus des "Neuen" bleibt ihm fremd. Warum den "großen Fischen" nachjagen, wenn ein verhafteter Kleindealer in der Statistik denselben Wert hat? Konflikte bleiben nicht aus: Dodo verrät Lulus Spitzel an zwei Dealer, die sein Tip hinter Gitter gebracht hatte. Der alltägliche Frust hat viele Wurzeln. Neben der chronisch schlechten Ausstattung der Polizei (die Tavernier immer wieder mit farcenhaften Einlagen aufs Korn nimmt), einer sich immer rasanter ausbreitenden Drogenkriminalität und dem völligen Versagen der Politik verschweigt der Film auch die menschlichen Defizite der Drogenfahnder nicht: faule und unfähige Beamte, Gewaltausbrüche bei Verhören, latenter Ausländerhaß.

Wenn "Auf offener Straße" so etwas wie eine durchgängige Geschichte hat, dann in einer Nebenhandlung, Lulus beinahe väterlicher Beziehung zu der süchtigen Prostituierten Cécile, die er einst mit einem billigen Trick als Spitzel "angeworben" hat. Céciles fortschreitende Sucht, ihre Hilferufe in immer kürzeren Intervallen mögen als Motivationen für Lulus ungebrochenen Idealismus verstanden werden. Dabei ist die Art, wie Tavernier gerade diese Nebenhandlung erzählt (besser: wie er sie nicht erzählt), charakteristisch für die gänzlich unspektakuläre Stimmung des Films: keine Psychologisierungen, keine Sentimentalitäten; es fehlen all jene zweifelhaften Qualitäten, denen sich bei diesem Sujet noch der eigenständigste Hollywood-Regisseur nicht hätte verschließen können (dürfen). Tavernier gelingt es, sich nicht nur in ein neues Genre hineinzufinden, sondern dessen Konventionen souverän als Rohmaterial für einen persönlichen Zugang zu nutzen - und sich in eine Reihe mit den besten amerikanischen Beiträgen zum Genre zu stellen.

Die große Entdeckung des Films ist Didier Bezace. Er liefert als Lulu das souveräne Porträt eines in sich gekehrten Idealisten, der unter dem zermürbenden Druck ständiger Frustrationen eben nicht zusammenbricht; dessen innere Kämpfe sich nur selten den Weg in ein Gesicht bahnen, das eher einen Berufsschullehrer oder Sozialarbeiter vermuten ließe als einen Drogenfahnder. Am Ende wird Lulu das tun, was er immer getan hat. Weitermachen. Camus' "Sysyphos" im wuchernden Großstadtdschungel.
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