Im Land der Stille

Dokumentarfilm | Frankreich 1992 | 98 Minuten

Regie: Nicolas Philibert

Der französische Dokumentarist Nicolas Philibert porträtiert Gehörlose aller Altersstufen und beobachtet sie in der Schule, am Arbeitsplatz oder in der Freizeit. Statt von einer Behinderung zu berichten, enthüllt sein Film eine für Hörende verschlossene, kunstvolle Kommunikationswelt voller Anmut und Präzision. Durch den weitgehenden Verzicht auf Geräusche und Töne - nur die Gebärdensprache wird mit Untertiteln übersetzt - wird der Zuschauer verführt, genauer und aufmerksamer hinzusehen und sich auf einen Dialog mit Menschen einzulassen, die im Alltag oft nur als Exoten wahrgenommen werden. (O.m.d.U.; Fernsehtitel: "Das Reich der Gehörlosen") - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LE PAYS DES SOURDS
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
Les Films d'Ici/La Sept cinéma/Le Centre Européen Cinématographique Rhône-Alpes
Regie
Nicolas Philibert
Kamera
Frédéric Labourasse
Schnitt
Guy Lecorne
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Du wirst ein Hörender werden", versprachen die Eltern ihrem Kind. "Wie schrecklich!", kommentiert der Herangewachsene mit aller Drastik, die ihm die Gebärdensprache in so reichem Maß zur Verfügung stellt. Die Erinnerung an das Getöse, die ständige Unruhe und Belästigung, die über das Hörgerät in sein Inneres brandete, reizt ihn auch Jahre später noch zur entschiedenen Abwehrgeste. Er, ein Bewohner im Land der Stille, empfindet fast so etwas wie Mitleid für jene, die im Lärm zu Hause sind. Und keiner, der sich Nicolas Philiberts dokumentarischer Expedition in diese Region des leisen, fernen Rauschens anschließt, wird dieses Statement als Kompensation einer Behinderung abtun können. Denn seine nahezu wort- und geräuschlose Reise in die fremde Welt der Stille verführt nicht nur zum Staunen, sondern viel mehr noch zum Sehen, zur Schärfung des visuellen Sinns, dem sich neue Dimensionen erschließen.

Nicht nur vom Titel her erinnert der französische Dokumentarfilm an Caroline Links .Jenseits der Stille" (fd 32 278). Auch Philibert plante ursprünglich einen Spielfilm über Gehörlose, für den er aber keine Geldgeber fand. Erst Jahre später entdeckte der Schüler von Alain Tanner und Claude Goretta einen Weg, seine intensive Recherchen doch noch filmisch umzusetzen. Während der langen Vorbereitungsphase hatte er angefangen, selbst die Gebärdensprache zu erlernen und war dabei auf Jean-Claude Poulain gestoßen, der ihm die Ohren verstopfte, dafür aber die Augen öffnete. Der quicklebendige Dozent, selbst gehörlos, vermittelte ihm - und im Film den Zuschauern - mit spielerischem Schalk, daß "taub" weder "stumm" noch "behindert" bedeutet, sondern nichts anderes als eine den Nichttauben zunächst fremde Sprache. Bei Philibert, der für sein detektivisches Sprachgefühl bekannt ist, das ihm mit seinem Debütfilm "La Voix de son Maître" (einer subtilen Studie über die Sprachgepflogenheiten französischer Industrieller) viel Ärger beschert hatte, war er damit sozusagen an einen Experten geraten. Mit Elan und einer ungeheuren Ausdauer begleitete der Filmemacher Gehörlose aller Altersstufen mit der Kamera, beobachtete sie in der Schule und am Arbeitsplatz, bei Festen und auf Reisen, im Kino oder im Straßenverkehr.

Je intensiver sich der Kontakt zwischen Regisseur und den einzelnen "Darstellern" gestaltete, desto persönlicher wurden ihre Mitteilungen, die in Art von Interviews zwischen die einzelnen Sequenzen geschnitten sind. Jeder Anflug von Mitleid oder exotischem Voyeurismus wird durch diese direkte Ansprache im Keim erstickt. Auch läuft die sympathische Erkundung nie Gefahr, in distanzierte Aufklärung abzugleiten, weil alle Informationen über Gehörlose, die in diesem sinnlichen Film enthalten sind, von ihnen selbst stammen: Erklärungen zu Syntax und Semantik, die so spielend in Gesten "übersetzt" werden, daß man sich als Hörender über die getrübte Erinnerung an den eigenen Grammatikunterricht wundert; kleine Lektionen zur wechselvollen Geschichte des Umgangs mit der weltweit 130 Millionen Menschen zählenden Gruppe, die in der Antike den Tieren gleichgestellt waren und deren Sprache in verschiedenen Epochen immer wieder unterdrückt wurde; schließlich die Tätsache, daß es zwar von Land zu Land unterschiedliche Gebärdensprachen gibt, dem "universellen Esperanto der Gesten" aber nur ein, zwei Tage Austausch entgegenstehen, bis einer aus Frankreich über den Witz eines Italieners lachen kann.

Eindringlicher aber als alles Wissenswerte prägten sich die Eleganz und der Anmut ihrer Gesten und Bewegungen ein, die Virtuosität und mimische Vielfalt, mit der sie jedes Wort blitzschnell in szenische Bilder transponieren und ihren Körper mit einer Grazie als Ausdrucksorgan beherrschen, die jedem Pantomimen zur Ehre gereichen würde. Die gelegentliche Heftigkeit, die dem verschämten Blick des Passanten reichlich theatralisch erscheint, gibt plötzlich Sinn, weil Gehörlose nur vis-à-vis kommunizieren: Das riesige Instrumentarium, sich verbal und gestisch zu distanzieren, vom Senken des Blicks bis zur Modulation der Lautstärke, wird hier in direkte "Face-to-Face"-Aktion umgesetzt. Nicolas Philiberts Verführung zum Sehen ist - ungeachtet einiger Länge - eine spannende, höchst aufschlußreiche Unternehmung, die einen zutiefst menschlichen Dialog mit Menschen knüpft, die im Alltag so leicht übersehen werden. Seine Helden wie der kleine Frédéric, der lieber auf dem Rasen tollt oder mit der Kamera flirtet als in der Sprachschule seine Stimmbänder zu bewegen, oder Poulain mit seinen magischen Händen hätten es verdient, via Mundpropaganda einem großen Publikum bekannt zu werden.
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