Große weite Welt

Dokumentarfilm | Deutschland 1997 | 90 Minuten

Regie: Andreas Voigt

Sieben Jahre nach der Wende verfolgt der Dokumentarfilm sechs Lebenswege von Menschen aus Leipzig und stellt ihre Hoffnungen, Glückserwartungen und Enttäuschungen ins Zentrum seiner Beobachtungen. Ohne erläuternden Kommentar verdichtet er sich dabei zum Porträt einiger vom Leben enttäuschter Menschen, die sich in ihrem Dasein einzurichten versuchen. Eine wichtige, soziologisch und psychologisch interessante Bestandsaufnahme zur deutschen Einheit. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
A Jour/MDR
Regie
Andreas Voigt
Buch
Andreas Voigt
Kamera
Sebastian Richter · Rainer M. Schulz
Schnitt
Angela Wendt
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Fünf Mal wählte Dokumentarist Andreas Voigt die Stadt Leipzig bereits zum Schauplatz seiner Filme, und immer hatte er damit Glück. Schon mit „Alfred“ (1986) gelang ihm das Porträt eines alten Mannes, der abseits realsozialistischer Heldenposen ein reiches, widersprüchliches Leben führte; prompt löste der Film Ärger mit der Obrigkeit der DDR aus. „Leipzig im Herbst“ (1989) beschrieb die Tage des Aufbruchs in der wegen ihrer Montagsdemonstrationen zur „Heldenstadt“ erklärten Messemetropole; „Letztes Jahr – Titanic“ (1991) dokumentierte, wie Menschen im Strudel der DDR-Endzeit untergingen – oder sich freischwammen. „Glaube, Liebe, Hoffnung“ (1994, fd 30 802) schließlich gelangte in den Rang einer Sensation: Voigt zeigte neben anderen auch den Baulöwen Schneider bei einigen seiner Leipziger Auftritte, kurz bevor dessen Imperium zerschellte und der Millionär sich als Schwindler entpuppte. Eine solch spektakuläre Figur fehlt in „Große weite Welt“; und doch gehört Voigts Arbeit neben den Langzeitdokumentationen von Winfried Junge und Volker Koepp sowie dem neuen Film von Helga Reidemeister „Lichter aus dem Hintergrund“ zu den wichtigsten, soziologisch und psychologisch interessantesten Bestandsaufnahmen von sieben Jahren deutscher Einheit.

Voigt kehrt zu den Figuren seiner „alten“ Filme zurück, rekapituliert schwarz-weiße Szenen aus den frühen 90er Jahren und setzt neue farbige Aufnahmen dagegen. Was, so will er wissen, ist aus den Hoffnungen und Sehnsüchten von damals geworden? Wohin hat es die Menschen getrieben? Haben sie jenes imaginäre Glück gefunden, das sie sich ersehnten? Voigt verfolgt sechs verschiedene Lebenswege, reißt die einzelnen Episoden an, um sie mit anderen zu vergleichen, zu untermauern oder zu konterkarieren. Da ist Sven, genannt „Papa“, der noch zu Zeiten der DDR seine Ausbildung abgebrochen und das Elternhaus verlassen hatte, später eine Heimstatt erst bei rechten, dann bei linken Skins suchte – und sie nun als Unteroffizier der Bundeswehr gefunden hat. Das Punk-Mädchen Isabell aus einem besetzten Haus lebt als Rechtsanwaltsgehilfin in Schwaben; tagsüber sehr bieder, bricht sie abends mit einem als Frau verkleideten und geschminkten Freund zum Abenteuerstreifzug durch die Stadt auf. Die ehemalige Wirtin Sylvia war nach der Währungsunion mit ihrem Mann nach Bayern gezogen. Jetzt wollen sie auch hier wieder weg, am besten nach Grenada, als Tauchlehrer.

Tauchen, Abtauchen – auf diese Metapher laufen nahezu alle Geschichten hinaus. Die Helden sind müde, suchen ihren Platz im Leben kaum mehr in irgendeiner Art von gesellschaftlichem Engagement, sondern im bescheidenen Glück im Winkel. „Eine kleine Familie“, sagt „Papa“ auf Voigts wiederkehrende Frage nach den Träumen von heute, außerdem will er möglichst bald Feldwebel werden. Das Punk-Mädchen möchte, wenigstens am Abend, Spaß am Leben haben, ohne auf die Umwelt Rücksicht nehmen zu müssen. Arbeiterinnen aus einem Bekleidungswerk treffen sich nach Jahren in einem Gartenhaus wieder – alle waren entlassen worden, jetzt sind sie Rentner oder Umschüler, weitgehend traumlos. Nur eine ehemalige Journalistin, die auf eine neue Beschäftigung in einem literarischen Förderverein hofft, artikuliert vage, sie habe eigentlich immer noch viel vor: „Noch mal neu anfangen...“ Voigt respektiert die melancholische Introvertiertheit, die von den meisten Personen ausgeht. Er findet dafür starke atmosphärische Bilder: Zum Schluß des Gesprächs mit den Näherinnen zeigt er die Totale des Gartenhauses, vor dem Lampions leuchten; die Frauen sind nicht mehr zu sehen, sie haben sich „nach innen“ zurückgezogen. Oder ein ehemaliger Stahlwerker, der nicht nur seine Arbeit, sondern auch seine Frau verlor und nun in einer kleinen Wohnung wie sein Wellensittich im Käfig hockt. Aber Voigt greift auch zu ironischen und sarkastischen Mitteln: so, wenn er zu Beginn ein paar Szenen aus „Leipzig im Herbst“ wiederholt, die hehren Worte von damals – „Man soll dieses Volk endlich zu mündigen Bürgern machen, ihm die ganzen Freiheiten geben“ – , und dann auf ein Autorestaurant schneidet, in dem man, am Lenkrad sitzend, sein Essen bestellen und in Empfang nehmen kann. Eine Freiheit, die es in der DDR tatsächlich nirgendwo gab... „Papa“ wird in seinem Gärtchen fotografiert, in dem er Blumen gießt, mit der Geliebten unter einer rot gestreiften Bettdecke oder im Treppenhaus, wo er seine Bundeswehrurkunden, Medaillen und eine Pistole aufgehängt hat. Mit einem Fahrstuhl nach oben fährt tatsächlich nur die Ex-Journalistin Renate: bildlich und vielleicht auch im übertragenen Sinne.

Über einige nachdenkliche Sätze legt Voigt zum Glück keinen erläuternden Kommentar, und auch das gehört zu den Qualitäten des Films. Ex-Wirtin Sylvia meint, daß sich im Grunde genommen seit 1989 nichts geändert habe: „Die große weite Welt wurde eröffnet, aber es kann eben nicht jeder teilnehmen am schönen Leben der Deutschen.“ Das frühere Punk-Mädchen gibt zu, bei allem, was sie jetzt tue, danach zu schauen, „was ich für’n Nutzen hab’, so hart wie’s klingt“. Und auf die Frage, was er heutzutage mit der Armee verteidige, antwortet „Papa“ schließlich mit entwaffnender Naivität, die wohl unendlich viel Wahrheit transportiert: „Den Wohlstand, den sich das Land erarbeitet hat, gegen ärmere Länder, die vom Kuchen ein Stück abhaben wollen.“ Folgerichtig endet der Film in einem abendlichen leeren Einkaufspark. Die Kamera entfernt sich von dem Auto, in dem „Papa“ und seine Geliebte sitzen, nur noch das „McDonalds“-Zeichen leuchtet in der Totale, während man dem Gespräch der beiden lauscht: „Wer weiß, was in 20 Jahren...“ – „Ich hab’ dich lieb, Spatzi.“ – „Ich dich auch...“
Kommentar verfassen

Kommentieren