Level Five

- | Frankreich 1996 | 106 Minuten

Regie: Chris Marker

Die Geliebte eines toten Computerprogrammierers versucht, dessen Lebenswerk, ein Computerspiel, das die historische Schlacht um Okinawa zu Gunsten der Japaner ummünzt, zu Ende zu programmieren. Sie muß einsehen, daß sich Realität und Geschichte keiner virtuellen Wirklichkeit unterordnen lassen. Ein pessimistisches Alterswerk, geprägt von einem tiefen Mißtrauen gegen die Medien, das sich mit vielen Anspielungen, Bezügen und Querverweisen zu einem ebenso anspruchsvollen wie faszinierenden, gewiß nicht immer leicht verständlichen Vexierbild verdichtet. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
LEVEL FIVE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Argos Films/Les Films de l'Astrophore/La Sept Cinéma
Regie
Chris Marker
Buch
Chris Marker
Kamera
Chris Marker · Gérard de Battista · Yves Angelo
Musik
Michel Krasna
Schnitt
Chris Marker
Darsteller
Catherine Belkhodja (Laura) · Nagisa Oshima · Kenji Tokitsu · Ju'nishi Ushiyama · Shigeaki Kinjo
Länge
106 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f (Originalf)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
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Diskussion
Ein Film, der sein Thema aus einer virtuellen Versuchsanordung filtert: Sein dramaturgischer Dreh- und Angelpunkt ist ein Computerspiel, das die Schlacht von Okinawa detailliert nachzugestalten versucht; alle Truppenbewegungen und Flugzeugangriffe, nicht zuletzt den massenhaften Selbstmord der Zivilbevölkerung. Rund 150.000 Frauen, Männer und Kinder nahmen sich 1945 das Leben, auf Anordnung der japanischen Armee. Niemand, so die wahnwitzige Parole, sollte den Amerikanern in die Hände fallen. Ein Mann hatte das Spiel entwickelt, aber nicht zum Abschluß gebracht: Der Tod schob sich vor die Vollendung. Nun sitzt seine Geliebte vor dem Computer, Laura mit dem schönen, sinnlichen Mund. Sie trat das Erbe an, der Schlacht auf dem Bildschirm zu einem Ende zu verhelfen. Die Aufgabe wiegt schwer, denn die Katastrophen von damals sollen jetzt umgemünzt werden. Der Auftrag lautet, die Historie zum Guten umzuschreiben, mit zusätzlichen Truppen für die unterliegenden Japaner oder welchen anderen Tricks auch immer. Doch der Computer verweigert sich diesem Ansinnen und stürzt ab: „Fehler 14 ist eingetreten“ oder „Zugriff verboten“. Das Spiel mit der Realität funktioniert nicht gegen sie, weder im Leben noch nach dem Tod.

Mit dieser Ouvertüre steigt Chris Marker in sein cineastisches Gedankengeflecht ein, „ein Puzzle, bei dem am Ende kein Bild entsteht, sondern das auf sich selbst verweist“, wie es einmal im Film heißt. Der 76jährige Regisseur, der seit den frühen 50er Jahren fürs Kino arbeitet und längst auch interaktive Multimedia-Projekte realisiert, legt damit eine Art Testament vor, ein Opus sowohl über den Schmerz des Todes als auch über die Widersprüchlichkeit des Erinnerns. Zu seinen Themen gehören die individuelle und kollektive Amnesie, das damit verbundene Mißtrauen gegenüber den Medien, die Unmöglichkeit, der absoluten Wahrheit auch nur partiell näherzukommen: „Level Five“ erweist sich, auf den Kern gebracht, als zutiefst pessimistisches Alterswerk. Zugleich schließt sich der Kreis seiner Filmografie, wenn sich „Level Five“ auf Motive aus „La jetée“ (1962) rekurriert. Damals entwarf Marker die Geschichte eines Mannes, der einen atomaren Weltkrieg überlebte und nun, im Zustand eines Hypnoseschlafs, Zeitreisen in Vergangenheit und Zukunft unternimmt. Auch Laura startet – nächtelang am Bildschirm sitzend, also unter einer speziellen „Hypnose“ – ihre Fahrt durch die Jahrzehnte. Und wie der Held aus „La jetée“ verschwindet auch sie im Finale aus dem Blick. Sie geht in die elektronische Ewigkeit ein, ist nur noch als virtuelle Maske wahrnehmbar – bis auch deren Umrisse im Nichts verschwimmen.

Mit der Einführung einer Figur namens „Chris“ bestätigt Marker, daß er diesen Film, wie viele seiner Arbeiten, nicht zuletzt als Selbstversuch empfindet. Chris, ironisch als „Montage-As“ apostrophiert, wird von Laura zu Hilfe gerufen, um das Computerspiel doch noch im Sinne des Verstorbenen zu Ende zu bringen. Gemeinsam begeben sie sich auf Spurensuche, die Frau immer wieder vor der Kamera, der Mann ausschließlich aus dem Off. Man recherchiert über Okinawa, befragt alte, dokumentarische Filmszenen und bittet per Internet Zeitzeugen zu Wort. Bilder und Reminiszenzen fügen sich und widersprechen einander; Marker läßt die einzelnen Partikel in Sekundenschnelle verschmelzen und wieder auseinanderbrechen, bemüht sich um Schneisen durch die Fülle der Information und macht zugleich deren Undurchdringlichkeit sinnlich erfahrbar. „Level Five“ gerät zu einem offenen Buch mit sieben Siegeln, einem enigmatischen Konstrukt, dessen „Links“ in die Unendlichkeit des virtuellen Universums führen. Wer sich in diesem Film auch nur für einen kurzen Moment bequem zurücklehnt, hat schon verloren. Und doch: Markers Werk ist nicht nur ein kühles, philosophisches und technisch innovatives Vexierspiel, sondern – zumindest in einigen Bruchstücken – auch ein „klassisches“ dokumentarisches Essay über die Verwobenheit menschlicher Schicksale mit Politik und Medien. So begegnen Laura und Chris auf ihrem Weg durch die Bilderwelten einer Sequenz, in der japanische Kameraleute den Massensuizid auf Okinawa filmen. Zu sehen ist eine Frau, die sich wie Hunderte andere von den Klippen ihrer Insel in den Tod stürzen will. Plötzlich hält sie inne, so als ob sie dem grausamen Befehl trotzen wollte – aber als sie, vermutlich, das auf sie gerichtete Objektiv entdeckt, springt sie doch in den Abgrund. Die Kamera fungiert, wenn auch indirekt, als Mordinstrument; der Kameramann bannt seine eigene Mitschuld auf Zelluloid. Eine andere Szene verweist auf Muster der Manipulation: In einer Wochenschau wurde das Motiv eines Soldaten zitiert, der brennend aus einem Flugzeug stürzt. Ein Märtyrer? Marker entlarvt die Legende als veritable Lüge, denn die Wochenschau ließ den Fortgang der Geschichte bewußt im dunklen; als der Soldat nämlich auf dem Boden angekommen war, erhob er sich – lebend. „Level Five“ trifft „Wag the Dog“.

„Okinawa mon amour“, sagt Laura irgendwann im Strudel der Geschichten, ein deutlicher Verweis auf „Hiroshima mon amour“ (fd 9 095), jenes Werk, dem „Level Five“ in Geist und Form verwandt ist. So wie die beiden Hauptpersonen in Alain Resnais’ Klassiker will auch Marker seine Helden trotz dokumentarischer Anlage als Kunstfiguren verstanden wissen: Den Namen Laura entlehnt er einem „film noir“ von Otto Preminger, und Lauras melancholische Nachdenklichkeit, ihre zunehmende Verunsicherung und ihre Suche nach Orientierung in Zeiten und Räumen korrespondiert mit der inneren Verfassung vieler Leidensgenossen des „nouveau roman“ und der davon inspirierten Filme von Godard, Robbe-Grillet, Duras und Resnais. „Level Five“ läßt ahnen, wie sehr es Marker noch immer drängt, die Grenzen des Mediums auszudehnen und zu überschreiten. Nun will er das konventionelle Filmmaterial, dessen er sich bislang bediente, endgültig hinter sich lassen: Sein nächstes Opus wird als CD-ROM ediert.
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