- | Frankreich 1999 | 117 Minuten

Regie: Otar Iosseliani

In einem großbürgerlichen Schloss bei Paris wohnt eine reiche Familie voller Exzentriker nebst einem Marabu. Der Vater ist ein Alkoholiker, der gern mit der Eisenbahn spielt, seine Frau hat Mafioso-Allüren, spielt aber auch die Sängerin, und der Sohn verkleidet sich als Tellerwäscher und treibt sich mit Gaunern und Pennern in Paris herum. Episodenhaft, aber durchaus spannend-poetisch und mit relativ wenigen Dialogen und schönen Bildern inszeniert, setzt sich ein unfertiges groteskes Puzzles zusammen, das zum Nachdenken über soziale Ungerechtigkeiten, geheime Wünsche und den Sinn des Lebens anregt. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ADIEU, PLANCHER DES VACHES | ADDIO TERRAFERMA
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Pierre Grise Productions/Carac /Alia/Instituto Luce
Regie
Otar Iosseliani
Buch
Otar Iosseliani
Kamera
William Lubtchansky
Musik
Nicolas Zourabichvili
Schnitt
Otar Iosseliani · Ewa Lenkiewicz
Darsteller
Nico Tarielashvili (Sohn) · Lily Lavina (Mutter) · Otar Iosseliani (Vater) · Philippe Bas (Motorradfahrer Gaston) · Stéphanie Hainque (Paulette)
Länge
117 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
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IMDb

Diskussion
Der stolze Marabu mit seiner weißen Brust, der majestätisch durch die hohen Räume schreitet, ist noch der normalste Bewohner des feudalen Schlosses irgendwo in der Banlieu von Paris. Denn er ist er selbst. Wie die Zuschauer im Kino scheint er belustigt auf das kuriose Sammelsurium exzentrischer Menschen in diesem Haus zu blicken - und manchmal fliegt er über sie alle hinweg, nachdem er zuvor aus lauter Lust und Frust einige Diener angekreischt und eingeschüchtert hat. Der Schlossherr (Regisseur Iosseliani selbst) ist ein liebenswerter älterer, reicher Patriarch. Er kümmert sich rührend um seine Labradorhündin, spielt leidenschaftlich wie ein Kind mit seiner Eisenbahn und lässt sich seine leeren Weinflaschen wie Tontauben hochwerfen, um auf sie zu schießen. Seine immer ein bisschen zu sehr aufgetakelte Ehefrau gibt tagsüber eine propere Geschäftsfrau ab, die wie ein Mafioso mit dem Hubschrauber entschwindet - auch zu ihrem Geliebten - , abends eine singende Entertainerin im Stil der 20er-Jahre, die die illustren Gäste ihres Schlosses bei einer Dinner-Party unterhält. Sohn Nico, Anfang 20, spielt zuhause den braven Sohn, entschwindet heimlich zu seinem Zweitleben nach Paris. Dort spielt er den armen Tellerwäscher in einem Restaurant, treibt sich mit seltsamen Freunden - einem Dieb und einem Penner - herum und verfolgt das Mädchen, in das er sich verliebt hat: eine Kellnerin, die aber lieber mit ihrem Motorradmann davonbraust. So will jeder Schlossbewohner eigentlich lieber anders sein, in einem ganz anderen Milieu leben und dort sein Glück suchen. Das meint auch der seltsame Originaltitel „Adieu, plancher des vaches!“ (Lebwohl, geliebte Kuh-Erde), ein Spruch französischer Seeleute im 19. Jahrhundert, als sie die vertraute, aber langweilige Heimat verließen. Doch die wahren Glücksmomente sind rar: wenn Nico den Pennerfreund mit aufs Schloss nimmt und der sich mit dem Hausherrn beim fröhlichen Weintrinken und Liedersingen wieder findet; wenn die Hausherrin, zurechtgemacht wie eine Operettendiva mit strahlenden Augen zu singen anfängt, und ihr der Marabu auf die Schulter fliegt; wenn ein Händler in Paris genüsslich in dem Bistro sitzt, in dem Nico arbeitet und beobachtet, wie gegenüber seine Wohnung samt Ehefrau in die Luft fliegt.

Schon „April“ (1962), der erste Film des Georgiers Otar Iosseliani, hatte diese eigentümliche Mixtur aus Surrealismus, absurdem Humor und liebevoller Zeichnung von Charakteren, die sich nicht so richtig wohl in ihrer Haut fühlen, sowie die ungewöhnliche Erzähltechnik, in der Dinge einfach nur passieren, als seien sie trotz ihrer grotesken Überspitzung die natürlichste Sache der Welt. Dabei sind sie extrem sorgsam konstruiert. Mehrere Geschichten fangen am selben Ort an, werden eigenständig, aber nicht chronologisch oder parallel erzählt, sondern wie zufällige Puzzle-Stücke. Personen- und Perspektivenwechsel sind immer abrupt, aber das Band, das alles lose zusammenhält, reißt nicht. Im Lauf der Zeit hat der in Frankreich lebende Autor und Regisseur diesen Stil verfeinert, der ihn zu einem ebenso eigenwilligen wie poetischen Außenseiter gemacht hat. Der Trick ist, eine Geschichte wie ein Dokumentarfilmer immer einige Minuten lang zu beobachten, bis sich der Zuschauer eingefühlt hat - und sie zu verlassen, wenn es spannend wird, um sich einer anderen Personen mit einer anderen Geschichte zuzuwenden, um genau unvermittelt wieder darauf zurückzukommen, aber nicht genau dort, wo sie stehen blieb, sondern ein bisschen weiter voran in der Zeit.

Ging Iosseliani dabei bisher eher wortkarg und vorwiegend mit natürlichen Geräuschen als Begleitmusik zu Werke - wie einst Jacques Tati - , so wird in „Marabus“ erstmals relativ viel geredet. Aber die immer noch spärlichen Dialoge über das tägliche Leben scheinen sich genauso zufällig und zwanglos zu ereignen, wie die seltsamen realen Fluchtgeschichten seiner Protagonisten und bringen die Figuren einander nicht wirklich näher, zumal Iosselianis Filme irgendwo zwischen dem letzten und dem vorletzten Jahrhundert angesiedelt sind und wie märchenhafte, humorvolle Parabeln über die sozialen Ungerechtigkeiten und die geheimen Wünsche jedes Einzelnen gänzlich ohne Belehrung enden. Auch die Zahl der Personen und damit der Puzzleteile scheint mit jedem Film zuzunehmen, was nach einer gewissen Zeit ermüdet, erst recht, wenn man andere Filme des Regisseurs kennt („Die Günstlinge des Mondes“, fd 25 080; „Jagd auf Schmetterlinge“, fd 30 089), da helfen auch die schön fotografierten Bilder und die überzeugenden Darsteller wenig. Aber dann findet Iosseliani doch wieder neue, ungewohnte Wendungen, etwa dass Nico mit seinen zweifelhaften Freunden ein Ding dreht und im Gefängnis landet. Und am Ende schafft es tatsächlich der, von dem man es am wenigstens erwartet hatte, das Schloss für immer zu verlassen und so souverän zu werden wie der Marabu.
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