Biopic | Großbritannien/Kanada 2009 | 98 Minuten

Regie: Sam Taylor-Wood

Spielfilm über den jungen John Lennon, den Beginn seiner musikalischen Karriere und die Gründung der Beatles, wobei nicht zuletzt die Beziehung Lennons zu seiner leiblichen Mutter beleuchtet wird, die er erst als Teenager kennen lernte. Ohne sklavisch an historischen Details zu hängen, entfaltet sich der Film als psychologisch nuanciertes Coming-of-Age- und Musikerporträt sowie als überzeugendes Zeit- und Milieubild, das von einer um Realismus bemühten Inszenierung und einem hervorragenden Darsteller-Ensemble getragen wird. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
NOWHERE BOY
Produktionsland
Großbritannien/Kanada
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Ecosse Films/Film4/UK Film Council/Aver Media/North West Vision
Regie
Sam Taylor-Wood
Buch
Matt Greenhalgh
Kamera
Seamus McGarvey
Musik
Alison Goldfrapp · Will Gregory
Schnitt
Lisa Gunning
Darsteller
Aaron Johnson (John Lennon) · Kristin Scott Thomas (Mimi Smith) · Anne-Marie Duff (Julia Lennon) · David Threlfall (Onkel George) · David Morrissey (Bobby Dykins)
Länge
98 Minuten
Kinostart
08.12.2010
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Biopic
Externe Links
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Diskussion
Beim Leichenschmaus für seine Mutter sitzt der 17-jährige John Lennon lange wie versteinert da, springt dann plötzlich auf und fängt mit seiner Band, den Quarrymen, zu streiten an. Er pöbelt herum, haut seinem Freund Pete ein Bild über den Kopf und stürmt, immer noch aufgewühlt, nach draußen. Paul folgt ihm, stellt ihn zur Rede und fordert ihn auf, ihm ebenfalls eine zu knallen. John lässt sich nicht zweimal bitten, verpasst dem schmalen Bürschchen eine blutige Nase und ist danach ganz auf tränenreiche Versöhnung eingestellt. Hoppla, denkt man sich, waren nicht Keith und Mick die bösen Jungs? Auch „Nowhere Boy“ wird nichts daran ändern, dass die Beatles neben den Rolling Stones immer etwas brav wirkten. Warum auch? Die „Fab Four“ sind, was sie sind, und spotten auf ihre Weise jedem Vergleich. Am Anfang des Films sind Paul und George noch weit entfernt, von Ringo ganz zu schweigen. John Lennon lebt bei seiner Tante Mimi, die ganz steife Oberlippe ist, und trägt mit seinem Ziehvater George den ersten geliebten Menschen zu Grabe. Bei der Beerdigung drückt sich eine Frau mit rotblondem Haar im Hintergrund herum: Johns leibliche Mutter, die ihn früh der Obhut ihrer Schwester überließ. Sie lebt zu Johns Erstaunen ebenfalls in Liverpool, nicht gerade in der Nachbarschaft, aber auch nicht mehr als einen strammen Fußmarsch entfernt. Als er Julia endlich kennen lernt, erschließt sich ihm eine völlig neue Welt: die des Rock’n’Roll. Im Grunde erzählt die Videokünstlerin Sam Taylor-Wood in ihrem Spielfilmdebüt zwei Geschichten. In der einen geht es um die Gründungsphase der Beatles, in der anderen um einen jungen Mann, der sein ganz persönliches ödipales Drama erlebt. Julia ist beinahe wie eine erfahrene Freundin inszeniert, und wenn Lennon zur Gitarre greift, will er nicht nur den gleichaltrigen, Elvis Presley anhimmelnden Mädchen gefallen, sondern vor allem seiner Mutter. Damit ist der Weg zu den Beatles geebnet: John rekrutiert auf dem Schulklo die Quarrymen und akzeptiert als geborener Anführer kein Nein. Nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt bei einem Kirchenfest kommt der Linkshänder Paul McCartney mit der Gitarre „falsch herum“ hereingestiefelt und wird nach akribischer Charakterprüfung aufgenommen: „Besser bei uns als bei einer anderen Band“, flüstert Pete Shotton dem Bandleader zu. In diesem poetisch verdichtenden, nicht gerade sklavisch an historischen Details hängenden Stil geht es weiter, bis sich John, Paul, George und die anderen nach St. Pauli einschiffen. Fans werden von hier aus leicht Anschluss an Iain Softleys „Backbeat“ (fd 30 724) über die Hamburger Jahre ihrer Helden finden. Die Klammer, mit der Bandgeschichte und Familiendrama zusammengehalten werden, ist der „kitchen sink“-Realismus. Auf ihn dürften sich Sam Taylor-Wood und Drehbuchautor Matt Greenhalgh wie von selbst verständigt haben: Greenhalgh hat mit Anton Corbijns „Control“ (fd 38 519) über den Joy-Division-Sänger Ian Curtis eine ähnliche Wiederbelebung des britischen Arbeiterfilms betrieben – wenn auch mit einem deutlich düstereren Kapitel der populären Musikgeschichte. Taylor-Wood zeigte in ihrem Kurzfilm „Love You More“, wie sicher sie das Bild einer vergangenen Epoche (hier der 1970er-Jahre) aus der Musik und dem darin eingeprägten Lebensgefühl entwickeln kann. So überzeugt beider Film in mehrfacher Hinsicht: als Milieustudie, die das Liverpool der späten 1950er-Jahre in satten und doch psychologisch nuancierten Farben ausmalt; als einfühlsame Skizze zweier ungleicher Schwestern, die für kurze Zeit wieder zusammenfinden; und natürlich als Porträt des halbstarken John Lennon. Letzterer hat Mutterwitz für zwei und ein angemessen loses Mundwerk. Sein aus „Kick-Ass“ (fd 39 830) bekannter Darsteller Aaron Johnson geht wie das gesamte, durchweg überzeugende Ensemble furchtlos jedes Klischee der britischen Arbeiterklasse an. Selbst wenn dieser faszinierende „Nowhere Boy“ nicht Lennon hieße, würde man ihn nicht missen wollen.
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