Dokumentarfilm | Deutschland 2019 | 110 Minuten

Regie: Julia Horn

Außergewöhnliche Langzeitbeobachtung über den Kampf eines Mannes, der sich zehn Jahre lang mit äußerster Hingabe um seinen im Wachkoma liegenden Bruder kümmert. Als intime, teilnehmende Beobachtungen dokumentiert der Film nicht nur eine tiefe Liebe unter Geschwistern, sondern formuliert implizit auch eine präzise Kritik am Gesundheitssystem, das auf funktionale Versorgung ausgerichtet ist, und arbeitet sich an einer radikalen Ethik des Helfens ab. Denn die mitmenschliche Ansprache und Nähe entpuppen sich als wichtigste Faktoren einer schrittweisen Heilung. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Corso Film/HornFilm/ZDF
Regie
Julia Horn
Buch
Julia Horn
Kamera
Timm Lange · Arne Wolter
Musik
Jörg Follert
Schnitt
Alexandra Karaoulis · Johannes Hiroshi Nakajima
Länge
110 Minuten
Kinostart
28.11.2019
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Außergewöhnliche Langzeitbeobachtung über den Kampf eines Mannes, der sich hingebungsvoll um seinen im Wachkoma liegenden Bruder kümmert. Der Film dokumentiert nicht nur eine extreme Hingabe und Liebe unter Geschwistern, sondern formuliert auch eine radikale Ethik des Helfens.

Diskussion

Ein Unfall reißt den Alltag einer Familie entzwei und macht sichtbar, was schon lange zuvor in die Brüche gegangen war. Markus, einer von sechs Brüdern, ist so schwer verletzt, dass er ins Koma fällt und die Ärzte keine Hoffnung auf Besserung haben. Sein Vater konfrontiert die Geschwister damit, dass er bei der Stadtverwaltung ein Grab bestellen wird. Aber einer von ihnen kann das nicht hinnehmen, ebenso wenig wie er die emotionalen Verhärtungen weiter mittragen will, die seine Familie geprägt haben. Michael kämpft um seinen Bruder Markus und ergreift dazu Maßnahmen, die radikal erscheinen, aber auf etwas verweisen, das eigentlich selbstverständlich sein sollte. Er möchte ihm ein Leben in Würde ermöglichen, bei dem Markus sich gesehen und akzeptiert fühlt. Michael ist auch davon fest überzeugt, dass nur Markus entscheiden kann, ob sein Zustand so unerträglich ist, dass er dieses Leben beenden möchte.

Die Dokumentaristin Julia Horn hat die beiden Brüder über zehn Jahre lang auf ihrem Weg begleitet und gemeinsam mit ihnen einen absoluten Ausnahmefilm geschaffen. Denn „Bruderliebe“ ist nicht nur eine intime und sehr nahegehende teilnehmende Beobachtung, sondern eine Betrachtung über das, was zwischenmenschliche Beziehungen generell ausmacht. Dazu gehört auch die Frage, wie man auf andere so eingehen kann, dass diese sich gesehen fühlen, und wie es gelingen kann, eine gemeinsame Realität zu teilen.

In der Pflegesituation stellen sich diese Probleme noch einmal neu. „Bruderliebe“ formuliert daher auch eine präzise Kritik am Gesundheitssystem und wie wenig bei der Ausbildung der Pflegekräfte in psychologisches Grundwissen investiert wird. Dabei ist die empathische Verbindung in der Betreuungssituation der ausschlaggebendste Faktor für eine nachhaltige Verbesserung.

Der geteilte mentale Raum

Schon im Krankenhaus hat Michael beim Anblick seines Bruders entschieden, dass er ihn niemals aufgeben wird. Im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern, die sich hilflos zurückziehen und mit der Verletzlichkeit seines zerstörten Körpers überfordert sind, handelt Michael pragmatisch und kreativ. Er spürt intuitiv, dass er die Verbindung zu seinem Bruder verlieren wird, wenn er ihm jetzt nicht die Hand reicht und seinen Geist auffordert, aktiv zu werden.

Er macht Tonbandaufnahmen von allen Bekannten, auch denen, die nicht im Krankenhaus vorbeikommen wollen, und spielt sie Markus über Kopfhörer vor. Und er beginnt kleine Filme zu drehen, von Orten, die Markus kennt und an denen sie gemeinsam Zeit verbracht haben. Auf dem kleinen Fernseher am Krankenbett erschafft er für seinen Bruder einen mentalen Raum, der ihm Vertrauen schenkt und zeigt, dass er nicht allein ist, auch wenn er für lange Zeit in seinem Körper gefangen bleibt.

Die Reaktionen geben Michael recht: Markus beginnt mit den Augen dem Lichtstrahl der Taschenlampe in seiner Hand zu folgen. Er lernt die Selbstbezüglichkeit wieder neu kennen, aus der ihn der Unfall gerissen hat. Es sind solche scheinbar kleinen Gesten, die einen immer größeren Effekt zeigen. Denn Markus kehrt zurück, Stück für Stück, mit einer quälenden Langsamkeit. Doch sein Bruder besitzt die Geduld und die Wärme, ihn bei jedem Schritt zu ermutigen und zu bestärken.

Eine radikale Entscheidung

Als die Zeit gekommen ist, dass Markus das Krankenhaus verlassen kann, trifft Michael eine Entscheidung, die bei kaum jemand auf Verständnis stößt. Er gibt sein bisheriges Leben auf, um seinen Bruder zu sich zu nehmen und zu pflegen. Dabei verfügt er kaum über finanzielle Ressourcen und auch über keine Unterstützung seiner Familie. Für den Vater ist Markus schlicht gestorben. Er möchte nicht einmal mehr über ihn reden. Wo einst die Küche war, steht nun ein großes Krankenbett; Michael kümmert sich um alles, was dazugehört: Windeln wechseln, Schläuche legen; aber auch um das, was wirklich entscheidend ist, nämlich seelische Präsenz und emotionale Anwesenheit für den anderen.

Dazu gehört, dass er Markus liebevoll anspricht, seinen Namen nennt, auf jede seiner Bewegungen reagiert und sie mit Anerkennung zurückspiegelt. Das ist eine echte Herausforderung, da das Gesicht des Bruders oft leer und ohne Reaktion bleibt.

Es braucht sehr viel innere Kraft, um weiter aus sich selbst herauszugehen und den anderen dort, wo er ist, zu adressieren, auch wenn er nicht antworten kann. Doch Michael hat den tiefen Glauben daran, dass sein Bruder da ist, dass er ihn hören kann, auch wenn Teile des Gehirns zerstört sind.

Ein Freund von Michael formuliert es einmal sehr schön: Die menschliche Persönlichkeit ist nicht gleichbedeutend mit dem Gehirn, sie drückt sich nur darüber aus. Auch wenn das Gehirn Schaden genommen hat, steckt dahinter ein menschliches Wesen, dessen Bezug zur Welt verstellt sein mag; doch das bedeutet nicht, dass es den Wunsch nach einer geteilten Realität verloren hat. Es sei denn, dass niemand antwortet und dem Kranken damit das Gefühl gibt, in der Welt nicht mehr willkommen zu sein. Oft ist genau das der bittere Alltag im Pflegesystem.

Betreuung heißt für den anderen präsent sein

Michael spürt, dass ihn die große Verantwortung zu erdrücken beginnt. Er sucht nach externen Helfern, die sich allerdings als ungeeignet erweisen. Über die zurückhaltende Kamera wird man Zeuge einiger Situationen mit Pflegern, die einen instinktiv zusammenzucken lassen. Es scheint nur zwei Formen der Ansprache zu geben, die sich manchmal wechselseitig ergänzen: entweder paternalistisch oder rein funktional. Markus reagiert sofort anders, wenn man ihn wie ein kleines Kind behandelt oder wenn in der Stimme der Pfleger eine latente Aggressivität zum Vorschein kommt, sobald ihm einfache Handlungen nicht gelingen.

Michaels Versuche bei den Betreuern, mehr Bewusstsein für seinen Bruder zu erzeugen, stoßen auf Widerstände und Unverständnis. Warum sollte man die Routinen ändern, die man seit Ewigkeiten angewendet hat?

Die niederländische Therapeutin Maria Aarts gibt Michael Recht. Als Supervisorin arbeitet sie schon lange daran, eine Sensibilisierung für Empathie-Prozesse in der Pflegesituation zu schaffen. Gemeinsam analysieren sie Interaktionen zwischen Markus und einer Betreuerin über einen Videomitschnitt. Dabei zeigt sich, dass es gerade hier nicht um eine Ausnahmesituation geht, denn selbst in der eigenen Familie sind soziale Spiegelung und Anerkennung des anderen keine Selbstverständlichkeit, wie sich beim Vater der beiden Brüder zeigt.

Was macht ein Leben lebenswert?

In einer bewegenden Szene kommt es zu einem Wiedersehen vor der Kamera. Doch es fällt dem älteren Mann sichtlich schwer, sich überhaupt positiv auf seinen Sohn zu beziehen. Michael widerspricht den düsteren Schicksalskommentaren seines Vaters und versucht eine andere Denkweise starkzumachen, die seinen Bruder als nach wie vor wertvollen Menschen mit der Möglichkeit zu einem glücklichen Leben vorstellt. Doch in seinen Verhärtungen hat der Vater nicht einmal ein Gefühl dafür, dass Markus seine verletzenden Kommentare hört und sichtlich darunter leidet.

Die Filmemacherin Julia Horn ist gemeinsam mit den Protagonisten etwas ganz Besonderes gelungen. Die unglaubliche Nähe der Einstellungen berührt ebenso wie Michaels Stärke, die Kraft, in der er selbst ist, und seine Liebe, die er mit anderen teilen kann. Das zu sehen, ist einzigartig und besonders. Die Effekte dieser Kraft zeigen sich mit Hilfe des filmischen Mediums erst nach und nach. Wenn Szenen aus dem Krankenhaus gegen solche geschnitten werden, in denen Markus bereits sichtlich präsenter und selbstständiger ist, staunt man über die Veränderungen. Ein Lachen, das sich plötzlich auftut, wo vorher nur schmerzhafte Abwesenheit zu sehen war, oder ein deutliches Signal des Bruders an seine Mitmenschen, darüber, dass er noch da ist und sie versteht.

Die Grenzen der Liebe

Auf Dauer ist Michaels Engagement aber keine ideale Lösung. Der Film verschweigt seinen gesundheitlichen Zusammenbruch nicht, der einen Neuanfang erzwingt. Aber seine Weigerung, den Bruder ins Heim zu geben, erscheint durchaus verständlich, wenn man die Umstände sieht, die damit verbunden sind. Doch das „Wundwerden“, von dem Michael spricht, wenn man zu sehr in andere hineingeht und damit seinen Eigenrhythmus aufgibt, um den anderen zu halten, ist auch eine Form der Selbstzerstörung, die ethisch nicht gerechtfertigt werden kann.

Obwohl er so viel gegeben hat, quält ihn ein schlechtes Gewissen, nicht genug getan zu haben. Dabei wäre die naheliegendste Lösung eigentlich die, jemandem wie Michael die Unterstützung zu geben, die er braucht. Dazu gehört auch, dass er seinen Bruder mit einem guten Gefühl der Obhut anderer überlassen kann, weil sie genauso daran glauben, dass Markus noch da ist.

Die eigentliche Ethik liegt darin, den anderen wirklich zu sehen, aus sich herauszugehen und ihm dort zu begegnen, wo immer er auch ist. Ob in einem gesunden oder in einem eingeschränkten Körper, spielt dabei keine Rolle.

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