Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist

Dokumentarfilm | Deutschland 2020 | 106 Minuten

Regie: Sabine Herpich

In der Kunstwerkstatt Mosaik in Berlin arbeiten Menschen mit Behinderung unter Anleitung von Begleiterinnen an Malereien, Zeichnungen und Skulpturen. Der Dokumentarfilm beobachtet mit Ruhe und Sorgfalt und stets auf Augenhöhe die Künstler bei der Herstellung ihrer Werke sowie deren Aufnahme in die Kunstwelt durch Führungen, Ausstellungen und Verkäufe. Dabei zeigt er den künstlerischen Prozess als etwas höchst Substanzielles und stellt auf diese Weise implizit den Dualismus zwischen „Außenseiterkunst“ und anderer Kunst in Frage. Ein gerade in seiner unaufdringlichen Form außergewöhnliches Werk. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Büchner Filmproduktion
Regie
Sabine Herpich
Buch
Sabine Herpich
Kamera
Sabine Herpich
Schnitt
Sabine Herpich
Länge
106 Minuten
Kinostart
12.08.2021
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Ein sorgfältig beobachtender Dokumentarfilm über die Berliner Kunstwerkstatt Mosaik, in der Menschen mit Behinderung Malereien, Zeichnungen und Skulpturen herstellen.

Diskussion

Schraffuren, fein mit Bleistift und Buntstift gezeichnet, füllen das Blatt, gehen über Maluntergründe hinaus, wandern auf die nächste Papierschicht und ziehen sich über kleine Holzklötzchen bis hin zum Rahmen der Staffelei. Der Atelierplatz des Künstlers, bestehend aus zwei rechtwinklig aneinander stehenden Arbeitstischen, hat wie seine Zeichnungen etwas gleichermaßen Akkurates wie Entgrenztes. Die Dokumentaristin Sabine Herpich, verantwortlich auch für Kamera und Montage, lässt sich Zeit, bevor sie dem Schöpfer dieser intensiven Liniengeflechte, Adolf Beutler, ein Gesicht gibt. Ihr Blick gilt zunächst seinem tief über das Blatt gebeugten Rücken, schließlich sehr ausführlich seiner Hand, die in den verbleibenden weißen Zwischenräumen des Papiers sorgsam ihre Striche setzt.

„Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“ nimmt seinen Anfang von der künstlerischen Arbeit, folgt Stift, Schere, Hand und Gedanken bei der Herstellung von Zeichnungen und Objekten. Erst dann kommen die Menschen dahinter in den Blick und die Umgebung, in der sie arbeiten. Schauplatz ist die Kunstwerkstatt Mosaik in Berlin, ein Atelier für Künstler:innen mit Behinderung oder „Assistenzbedarf“ wie es auf der Website der Einrichtung heißt.

Der Film zeigt „Outsider Art“ als ernstzunehmende Kunst

Bis heute wird die sogenannte „Outsider Art“ – Kunst von Menschen mit Behinderung, von Kriminellen, Obdachlosen, aber auch Naive Kunst, Volkskunst – von der anderen Kunst abgegrenzt. Auch frühe inklusive Ausstellungen wie etwa Harald Szeemanns legendäre documenta 5 oder auch die erkennbare Öffnung des Mainstream-Kunstfeldes auf der Venedig-Biennale 2013 haben an dem bestehenden Dualismus wenig geändert. „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“ ist eher indirekt ein Beitrag zu der anhaltenden Debatte über den Status von Außenseiterkunst, der Film lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass es sich bei den gezeigten Werken um ernstzunehmende Kunst handelt und bei den Porträtierten um ernstzunehmende Künstlerinnen und Künstler. Sichtbar wird dies implizit: durch die unglaubliche Ruhe und Sorgfalt, mit der die Filmemacherin der Kunst beim Entstehen zusieht, durch ihr unverstelltes Schauen, stets zugewandt und auf Augenhöhe. Und durch ihre Selbstverständlichkeit im Umgang mit Menschen, die in der Einrichtung vor sich hinarbeiten.

Suzy van Zehlendorf malt nach medialen und kunsthistorischen Vorlagen und ersetzt die Figuren durch Hähne. Leonardo da Vincis „Mona Lisa“, Maurizio Cattelans kniender Hitler, der „Schrei“ von Munch: Sie alle existieren als van Zehlendorf’sche Hahn-Appropriationen. Im Film sieht man die Künstlerin aber vor allem bei der Arbeit an einem Modell des Bode-Museums als „Skulpturen-Knast“. Ihre Abscheu für das Gebäude – „hässlich, dunkel, nicht einladend, näh!“ – sitzt tief und geht so weit, dass das Objekt während der Produktion weitgehend abgedeckt sein muss. Am Ende soll es mit Dartpfeilen beschossen und seine Insassen – die Skulpturen – befreit werden. Von Zehlendorf weiß ziemlich genau, was sie da tut, eine helfende Hand benötigt sie höchstens einmal beim Umbau des Arbeitsplatzes. Andere brauchen mehr Anleitung und Unterstützung – etwa für die Präzisierung eines Themas oder Titelfindungen.

Hintergründe von innen heraus erzählt

Die Leiterin der Werkstatt, Nina Pfannenstiel, ist aber auch für andere Aufgaben zuständig: Fürs Trösten und Gut-Zureden, wenn Adolf Beutler wieder einmal in Tränen ausbricht. Sie ist aber auch das Verbindungsglied zwischen Kreativen und Institutionen, wählt Arbeiten für Ausstellungen aus, kommuniziert mit Galeristen und legt Preise fest. Wie die Tischlerei und andere Werkstätten hat die Abteilung den Anspruch, sich mit Verkäufen zu refinanzieren. Herpich erzählt Hintergründe wie diese stets von innen heraus, durch die dokumentarische Beobachtung von Führungen, Betriebssitzungen und einer Vernissage. Hier wirft der Film auch einen Blick zurück in die dunkle Vergangenheit im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Adolf Beutler, 1935 geboren und der Euthanasie der Nazis knapp entkommen, war mehr als vierzig Jahre in der Psychiatrie eingesperrt, bevor er im Zuge der Psychiatriereform in eine Wohngemeinschaft kam und in der Werkstatt den Künstler in sich entdeckte.

Unterbrochen wird der Rhythmus des Films immer wieder durch unbewegliche Einstellungen. In diesen „Pausen“ existieren die künstlerischen Arbeiten ganz für sich, an der Wand, auf den Werktischen, auf der Staffelei, gerahmt und ungerahmt. Man sieht die Ordnung oder Unordnung, mit der die Arbeitsplätze organisiert sind, den Raum, der sich aus diesen verschiedenen Bestandteilen zusammensetzt, das Institutionelle, das hinter dem Individuellen hervortritt. Außergewöhnlich ist „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“ in seiner unaufdringlichen Form, der völligen Abwesenheit des Außergewöhnlich-Findens dieser Umgebung.

Kommentar verfassen

Kommentieren