© Studiocanal/Arthaus (aus "Dead Man")

Mystische Coolness - Jim Jarmusch

Über den „Botschafter der Coolness“, die Zeit, als das Wort „independent“ noch etwas bedeutet hat und das Kino als Land mit einer globalen Sprache galt. Hommage zum 70. Geburtstag

Veröffentlicht am
30. Januar 2023
Diskussion

Die Filme des 1953 geborenen US-Filmemachers, der in den 1980er-Jahren zur Ikone des Independent-Kinos wurde, erlangten früh Kultstatus; schon sein Filmhochschul-Abschlussfilm „Permanent Vacation“ machte ihn international bekannt. Von „Down by Law“ bis „Only Lovers Left Alive“ hat Jim Jarmusch einen filmischen Kosmos voller schräger Figuren und Anleihen bei Popkultur und Philosophie erschaffen. Am 22. Januar wird Jarmusch nun 70 Jahre alt – und wir können es mehr denn je brauchen, von ihm daran erinnert zu werden, was es heißt, cool zu sein.


Ein junges Paar ist von Tokio nach Memphis gereist. Auf der Suche nach den großen Stätten des Rock’n’Rolls übernachten sie in einem heruntergekommenen Hotel. Sie reisen mit einem alten Koffer, hören Musik mit Kopfhörern. Er verzieht schon den ganzen Tag keine Miene, steht mit betont gelassener Geste, Jackett und Elvistolle am Fenster und betrachtet die leeren Straßen der Stadt. Sie ist enthusiastischer, mit Föhnlockenkopf und lässigem T-Shirt. Nur ihren Freund himmelt sie mehr an als Elvis. Memphis ist wie Tokio, sagt er. Nur mit weniger Gebäuden. Irgendwann legt sie sich ins Bett und wirft ihm ihre Kleidungsstücke entgegen. Sie sagt ihm, dass sie nichts mehr trage. Er solle mit ihr schlafen. Er dreht sich zu ihr, weiterhin keine Regung auf seinem Gesicht, seine Lippen zusammengepresst. Er schläft mit ihr.


Friedlicher Eskapismus

Die Filme von Jim Jarmusch wirken nur, wenn man in ihnen leben möchte. Das heißt, sie atmen dann, wenn sich das, was man in ihnen sieht, mit einem Gefühl für das eigene Leben deckt. Das mag sich über viele Filme sagen lassen, aber kaum wer verknüpfte je so penetrant eine Weltsicht mit ästhetischen Manierismen, eine Stimmung mit der Liebe für Kino und Popkultur, seine Figuren mit der Art und Weise, mit der diese auf die Welt blicken. Man muss die Schönheit erkennen, die darin liegt, mit stoischer Gleichgültigkeit zu ertragen, dass man auf ausgeleierten Matratzen schläft, bitteren Kaffee trinkt und nur noch ein paar Münzen neben den Magazinen im klappernden Koffer bei sich trägt. Man muss an eine Welt glauben, in der Arbeiter Rimbaud zitieren.

"Mystery Train" (© Studiocanal/Arthaus)
"Mystery Train" (© Studiocanal/Arthaus)

Wenn man sich in Jarmuschs „romantischem Sampling“ (Jonathan Rosenbaum) von Zen, Hip-Hop, Rock’n’Roll, Comics, Vagabundentum, Lyrik, Gangstern und Kunstgeschichte wiederfindet, öffnen die sich allesamt ähnelnden dreizehn Spielfilme, die der Filmemacher seit 1980 realisierte, einen quasi spirituellen Wirkungsraum, der der eigenen Nichtigkeit einen philosophischen Unterbau zu liefern vermag. Auch wenn dieser selten weiter reicht als die Feststellung, dass die Welt nicht unbedingt außerhalb dessen existiert, was man von ihr wahrnimmt, enthalten die Filme doch etwas Tröstendes, weil sie einen friedlichen Eskapismus für all jene bereithalten, die nicht wissen, wohin sie fliehen sollen. Und weil alles, was eigentlich am Abgrund balanciert, so betörend schön aussieht.


Ikonische Bilder des Außenseitertums

Fast alles in Jarmuschs Kino ließe sich mit dem schwammigen Wort der „Coolness“ überschreiben, egal ob man an den regungslos im verdunkelten Wohnzimmer sitzenden Bill Murray in „Broken Flowers“, die mit Schmalzlocke und Lippenstift nach Elvis Presley suchenden japanischen Touristen in „Mystery Train“, die sonnenbrillentragenden Vampire in „Only Lovers Left Alive“, das Haarnetz von Tom Waits in „Down by Law“ oder die entrückte Entfremdung von Johnny Depps William Blake in „Dead Man“ denkt. Die „New York Times“ bezeichnete Jarmusch einst als „Botschafter der Coolness“. Seine Welt wird bevölkert von Figuren, deren sparsam geäußerte Sätze oft mehr bedeuten, als gesagt wird. Die Bedeutung liegt im Unausgesprochenen. Man muss verstehen, obwohl man nicht alles versteht.

Jim Jarmusch beim Dreh von "The Dead Don't Die" (© IMAGO/Abbot Genser/Focus Features Courtesy Everett Collection)
Jim Jarmusch beim Dreh von "The Dead Don't Die" (© imago/ Everett Collection)

Jarmusch interessiert sich für jene, die den Normen widersprechen, ohne dabei unangenehm zu werden. Alle bleiben gefasst, rasten selten aus, aber spielen auch nicht mit. Seine Helden sind die, die sich verkaufen lassen im bürgerlichen Mainstream, die keine Angst machen, sondern ein Begehren auslösen. Bereits sein von der Musik John Luries beseeltes New-York-Porträt Permanent Vacation besteht aus zig potenziellen Plattencovern. Die Tendenz zu solch ikonischen Bildern des Außenseitertums steigerte sich in seiner Zusammenarbeit mit dem niederländischen Kameramann Robby Müller, der auch mit Wim Wenders arbeitete. Letzterer hat uns teilweise ein ähnliches Bild der USA gezeigt wie Jarmusch. Eine geschichtsvergessene, bisweilen menschenfeindliche Wüste, in der es aber immer Räume für die Verlorenen gibt, und sei es nur in deren Imagination. Das Versprechen von Freiheit überall. Man möchte auch so leben… aber gilt das noch immer?


Als das Wort „independent“ noch etwas bedeutet hat

Bereits wenige Jahre nach ihrem Erscheinen haftet Jarmuschs Arbeiten ein etwas angestaubter, beinahe schon geschichtsethnologischer Beigeschmack an. Man schaut sie an, wie andere eine 1980er- oder 1990er-Diskothek besuchen. Nostalgisch entdeckt man Haarschnitte, Medien (Walkmen, Ghettobluster, Jukeboxes), Musikstücke, Lebensweisen, die heute schwer vorstellbar sind. Es sind Bilder für eine Teenagergeneration, die es nicht mehr gibt. Seine Liebe für Gimmicks entwertet die Filme heute, denn obwohl sie offensichtlich Zeitlosigkeit anpeilen, werden sie durch kulturelle Marker in ganz spezifische Kontexte gebettet.

Jarmuschs debüt: "Permanent Vacation", 1980 (© Studiocanal/Arthaus)
Jarmuschs Debüt: "Permanent Vacation", 1980 (© Studiocanal/Arthaus)

Jarmuschs durchaus politische Liebe für die von der Gesellschaft Verstoßenen entspringt dem Sentiment einer Generation, für die das Wort „independent“ noch etwas bedeutet hat. Nicht nur Jarmuschs Helden verstanden sich als „independent“, er selbst identifizierte sich damit. Aber wie Musik- und Filmkennerinnen wissen, ist das mit der Unabhängigkeit inzwischen ein abgenutzter Witz, ein bereits im Keim erstickender Traum junger Künstler. Zumindest im publikumswirksamen Kino. Zusammen mit Jarmuschs Exil in Kinematheken, die seine Arbeiten von DVD-Boxen spielen (wie vor einigen Jahren im Filmmuseum München), verschwand auch der noch halbwegs glaubwürdige Indie-Rock aus den Platten- und CD-Läden, dann verschwanden auch diese. Im Kino ist das Indie-Label irgendwann zum Marketingsprech geworden, dann ist es vollends abhandengekommen. Die Zigarette, so prominent in allen Aggregatzuständen gefilmt von Jarmusch, hat auch an Coolness eingebüßt, so sehr, dass selbst der Filmemacher damit aufgehört hat, sie zu konsumieren. Die Unabhängigen, was für Träumer sollen das gewesen sein?

Jarmusch, zum Beispiel, besaß lange selbst die Rechte an seinen Arbeiten und damit auch den Final Cut. Das ist in der Größenordnung, in der er Filme realisierte, alles andere als selbstverständlich, man muss nur einmal bei Quentin Tarantino fragen, der ihn Mitte der 1990er als Aushängeschild der US-amerikanischen Unabhängigkeit ablöste. Vielleicht ist Kelly Reichardt eine Nachfolgerin, aber so ganz passt das Label der Unabhängigkeit nicht auf sie. Gelernt hat Jarmusch, der auch Lyrikklassen besuchte (in „Paterson“ kann man eines seiner Gedichte hören) unter anderem bei Nicholas Ray (im Rahmen seines Studiums an der NYU, wo in jener Zeit auch Susan Seidelman oder Spike Lee studierten), einem der großen Unangepassten der Filmgeschichte, dessen unübertroffener erster Spielfilm bereits im Titel das ganze Kino von Jarmusch zusammenfasst: „They Live by Night“, sie leben nachts. Gelernt hat er aber auch in seinen engverschränkten Ostküstenzirkeln (ursprünglich kommt Jarmusch aus dem Mittleren Westen der USA).


Rhythmen, Strophen, Refrains

Die New Yorker Avantgarde der 1970er und 1980er hat es wie wohl kaum eine andere Filmbewegung verstanden, die Nähe zu anderen Künsten zu pflegen. Musik, Lyrik, Literatur, Kunst, Film. Alles bereicherte sich gegenseitig. Bei Jarmusch spielt vor allem die Musik eine große Rolle, egal ob er selbst spielt oder Iggy Pop, Tom Waits, dem Wu-Tang Clan oder Yasmine Hamdan zu unvergesslichen Auftritten verhilft. Seine Filme folgen Rhythmen, gliedern sich oft in Strophen und Refrains. Er arbeitet mit Wiederholungen, Kapiteln, stets folgt er einer auf die Erzählung gelegten Ordnung, die dem mit dem Nichts flirtenden Chaos einen übergeordneten Sinn zuschreibt.

"Only Lovers Left Alive" (© Pandora)
"Only Lovers Left Alive" (© Pandora)


Jarmusch, erinnert sich noch irgendwer? Sind er und seine jahrelangen Wegbegleiter heute noch mehr als die herumlungernden Vampire, die er in „Only Lovers Left Alive“ gefilmt hat? Wesen, deren kulturelles Wissen und Hinwendung an Schönheit und Ewigkeit verpuffen in einer dafür taubgewordenen Wirklichkeit. Hat die in den 1950er-Jahren geborene Idee einer linken, weißen, US-amerikanischen Unangepasstheit und Avantgarde noch irgendwo überlebt, außer in den Erinnerungen einiger Altvorderen, die mit den politischen Notwendigkeiten der Gegenwart kaum etwas anzufangen wissen? Gibt es heute noch eine Idee von Coolness, die nichts mit Tech-Milliardären am Hut hat? Es ist schwer zu sagen. Dabei ist die dem Kino Jarmuschs eigene Coolness weitaus tiefsinniger, als der inzwischen doch weitgehend aus dem Jugendjargon verschwundene Begriff es vermuten lassen würde. Am deutlichsten sieht man ihn in Filmen wie "Ghost Dog - Der Weg des Samurai" oder „The Limits of Control“, also immer dann, wenn er sich mit schwarzer Kultur auseinandersetzt.


Coolness - die Würde der Beherrschtheit

Denn Jarmuschs Begriff von Coolness lässt sich am ehesten mit jenem der traditionellen Yoruba-Kultur Westafrikas vergleichen. Wie der Kunsthistoriker Robert Farris Thompson ausführlich beschrieb, geht es hierbei um „Itutu“, eine mystische Coolness, die sich bis in Musikrichtungen wie Jazz oder Hip-Hop fortsetzte. Es gehe um die Würde der Beherrschtheit, die durchaus mit Sanftheit und dem gepflegten öffentlichen Gebaren zusammenhängt. Die geschlossenen Lippen des jungen japanischen Touristen in „Mystery Train“ sind Idealbild dieser Kultur. Coolness heißt hier nicht nur, die Ruhe zu bewahren, sie ist Zugang zu einer spirituellen Welt und gleichermaßen deren Ausdruck. Sie ist gleichzusetzen mit einem guten Charakter.

"Ghost Dog - Der Weg des Samurai" (© Miramax/Everett Collection)
"Ghost Dog - Der Weg des Samurai" (© Miramax/Everett Collection)

In diesem Bild von Coolness würde Jarmusch als „Amewa“ (ein Kenner der Schönheit) weniger an Zeitströmungen gebunden sein. Er würde frei nach dem Ideal der Yoruba eine zeitlose, in sich selbst ruhende Kunst vertreten. Eine Kunst, die sich über die Welt erhebt. Jarmuschs Filme widersprechen jenen, die daran festhalten, dass der Einfluss fremder Kulturen etwas Verwerfliches wäre. Die urbane Weltoffenheit seiner Arbeit lässt sich als Diversität avant la lettre bezeichnen. Natürlich ist Diversität ein weitaus älteres Konzept, aber betrachtet man die hilflosen Versuche von Filmproduktionen heute, verschiedene Kulturen zu vertreten, kann man bei Jarmusch ein genuines Interesse an schwarzer, arabischer, persischer, europäischer, südamerikanischer Kultur erkennen, bevor der Mainstream danach geschrien hat.

Die von Jean-Luc Godard und Serge Daney verteidigte Idee des Kinos als autonomes Land war bei Jarmusch lange greifbar. Es handelt sich um Land mit einer globalen Sprache, die nichts mit einem globalen Markt zu tun hat. Die Gesetze dieses Landes, die Gepflogenheiten, der Stil, die gemeinsamen Referenzen, das alles gibt es bei Jarmusch. Er drehte Bilder, die man in Japan und in Chile verstehen kann. Codes, die überall im Kino das Gleiche bedeuten. Heute kennen wir das kaum, weil die Sprache dieses Landes abgelöst wurde durch die Sprache des globalisierten Kapitalismus. Statt einer Kinosprache gibt es ein Mischmasch aus Ästhetik, die keiner unabhängigen Kunst mehr zugerechnet werden kann. Vielleicht kann Jarmusch in dieser Welt keine Filme mehr drehen und vielleicht hat er sich deshalb jüngst Vampiren und Zombies zugewandt, also den Bewohnerinnen einer Zwischenwelt? Man kann ihm wünschen, dass er nochmal wiederkehrt und uns im Großvateralter daran erinnert, was es heißt, cool zu sein. Wir könnten es brauchen.


Hinweis

Das Werk von Jim Jarmusch ist in Deutschland auf DVD, BD und digital auf vielen gängigen Plattformen zugänglich. Ein Großteil seiner Filme von "Permanent Vacation" bis zu "Broken Flowers" ist beim Label Studiocanal/Arthaus erschienen;  jüngere Arbeiten wie "The Dead Don't Die" und Only Lovers Left Alive" bei anderen Anbietern.


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