Zeit der trunkenen Pferde

- | Iran/Frankreich 2000 | 80 Minuten

Regie: Bahman Ghobadi

Die iranisch-irakische Grenzregion nahe der südlichen Türkei ist ein unwirtlicher Landstrich, der politischer Willkür und rauer Witterung ausgesetzt ist; die Dörfer dies- wie jenseits der Demarkationslinie sind von Kurden bewohnt. Da die Felder kaum Ertrag bringen, leben die meisten vom Schmuggel, auch die mutterlose Familie des zwölfjährigen Ayub. Nach dem Tod des Vaters wird der Junge zum Familienoberhaupt. Um die Operation seines behinderten Bruders zu finanzieren, will er im Irak ein Maultier verkaufen. Auf dem Weg zur Grenze geraten die Brüder in einen Hinterhalt. Der Film verdankt seine archaische Kraft den hohen dokumentarischen Anteilen in der Inszenierung. Er beschönigt oder verklärt nicht und stellt auf hohem ästhetischen und ethischen Niveau universelle Grundfragen. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
ZAMANI BARAYE MASTI ASBHA | UN TEMPS POUR L'IVRESSE DES CHEVAUX
Produktionsland
Iran/Frankreich
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Bahman Ghobadi Films/Farabi Cinema/MK 2
Regie
Bahman Ghobadi
Buch
Bahman Ghobadi
Kamera
Saed Nikzat
Musik
Hossein Alizadeh
Schnitt
Samad Tavazoi
Darsteller
Rojin Yunesi (Rojin) · Mehdi Ekhtiardini (Madi) · Ayub Ahmadi (Ayub) · Ameneh Ekhtiardini (Ameneh) · Kolsum Ekhtiardini (Kolsum)
Länge
80 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Verleih DVD
Kool (16:9/Kurdisch/Pers.)
DVD kaufen

Diskussion
Seit mehreren Jahren gehören iranische Filme zum Erfrischendsten, was das internationale Kino zu bieten hat. Ohne dass auf die teuren Herstellungs- und Vertriebsapparaturen der Unterhaltungsindustrie zurückgegriffen werden könnte, entstehen hier kontinuierlich – gerade durch die Konzentration auf das Wesentliche – menschlich elementare Studien. Mitunter scheint es sogar, als seien die Errungenschaften von Neorealismus und Nouvelle Vague in Europa vergessen und würden stattdessen im Iran weiterleben. Nach den Pionieren der „Neuen Persischen Welle“ wie Abbas Kiarostami oder Mohsen Makhmalbaf macht nun schon die zweite Generation innovativer Regisseure von sich reden. Bahman Ghobadi war Regieassistent bei Kiarostami und spielte in einem Film von Makhmalbafs Tochter Samira die Hauptrolle. „Zeit der trunkenen Pferde“ ist sein erster abendfüllender Spielfilm. Er erhielt auf Anhieb eine „Oscar“-Nominierung und wurde in Cannes, Chicago und Sao Paulo zu Recht mit Preisen überschüttet Die iranisch-irakische Grenzregion nahe der südlichen Türkei: ein unwirtlicher Landstrich, politischer Willkür und rauer Witterung gleichermaßen ausgesetzt. Dies- wie jenseits der Demarkationslinie sind die Dörfer von Kurden bewohnt. Da die steinigen, steilen Felder kaum Ertrag bringen, lebt ein Großteil der Bevölkerung vom Schmuggel. Reifen für den international boykottierten Irak, Lebensmittel und Kleidung für den chronisch unterversorgten Iran. Auch die mutterlose Familie des zwölfjährigen Ayub hat ihre Lebensgrundlage im Schmuggel. Ayub wartet mit seinen beiden Schwestern und dem kleinwüchsigen Bruder Madi jeden Tag voller Angst und Hoffnung auf die Rückkehr des Vaters von seinen gefährlichen Touren. Denn die Schmuggler haben nicht nur Landschaft, Wetter, Grenzpolizei und Räuberbanden zum Feind – viele der Schleichpfade sind zudem seit dem irakisch-iranischen Krieg stark vermint. Fast unvermeidlich tritt der denkbar schlimmste Fall ein. Ayubs Vater überlebt eine der Grenzexpeditionen nicht. Die vier Kinder sind plötzlich Waisen, die Rolle des Familienoberhauptes fällt Ayub zu. Verschärfend für die Lebenssituation kommt die Tatsache hinzu, dass der schwerbehinderte Madi dringend operiert werden müsste. Erfolgt diese Operation nicht, verbleiben ihm nur noch wenige Jahre. Die Geschwister versuchen, auf verschiedene Weise zu helfen. Während sich die älteste Schwester Rojin in ein benachbartes irakisches Dorf verheiraten lässt, um mit der Mitgift den Eingriff zu finanzieren, will Ayub das Maultier auf dem Markt verkaufen. Gemeinsam mit Madi begibt er sich im Tross einer Schmugglergruppe in Richtung Grenze, wo sie in einen Hinterhalt geraten. Es ist auffällig, wie oft im modernen iranischen Kino Kinder im Mittelpunkt des Geschehens stehen, ohne dass es sich deshalb explizit um Kinderfilme handeln würde. Schon in Abbas Kiarostamis Klassiker „Wo ist das Haus meines Freundes“ (1988) ging es um einen Jungen, der – plötzlich in eine ihm fremde Umwelt geraten – weitreichende Entscheidungen treffen muss. Zuletzt stellte Majid Majidi in „Die Farben des Paradieses“ (fd 34 774) ein blindes Kind in den Mittelpunkt, dessen Behinderung für seine Umgebung zum moralischen Gradmesser wird. Auch für Bahman Ghobadi bildet das Kindsein die Metapher für eine im Umbruch befindliche Gesellschaft. Die Heranwachsenden werden quasi über Nacht in ein soziales System eingegliedert, dessen Totalität scheinbar keinerlei Spielraum lässt. Ihr individuelles Verhalten zeigt jedoch, dass dennoch Entscheidungen möglich und nötig sind, dass der Starrheit der Erwachsenenwelt Alternativen entgegenzusetzen sind. Dieser Naivität haftet ein ungeheures Utopiepotential an: eine Ästhetik des Widerstands, mit der sich Filmemacher wie Ghobadi ebenso identifizieren wie die vielen Zuschauer, von denen die Filme begeistert aufgenommen werden. „Zeit der trunkenen Pferde“ verdankt seine archaische Kraft auch den hohen dokumentarischen Anteilen in der Inszenierung. Die kindlichen Hauptdarsteller entstammen alle einer Familie des Bergdorfes Baneh, spielen faktisch sich selbst. Sämtliche Aufnahmen entstanden im authentischen Umfeld der Region und unter Mithilfe seiner Bewohner. Studioaufnahmen, Special Effects, Bühnen- und Kostümbild im herkömmlichen Sinne gibt es in diesem Film nicht. Regisseur Ghobadi weiß zudem sehr genau, wovon er spricht. Auch er entstammt einem kurdisch-iranischen Bergdorf, hat eine ähnlich kurze Kindheit erlebt. Der Titel mag zunächst Folklorismus verheißen, jenes Phantom von farbenprächtiger Ursprünglichkeit, mit der in Europa gern das schlechte Wohlstandsgewissen beruhigt wird. Er hat freilich einen sehr konkreten Hintergrund. Damit die Pferde der Schmuggler die Strapazen im Winter überhaupt aushalten, wird ihnen Alkohol unter ihr Trinkwasser gemischt. „Zeit der trunkenen Pferde“ hat mit wohlfeilem Ethno-Kino nicht das Geringste zu tun. Der Film besticht vielmehr durch seine kraftvolle Bildsprache, die nichts beschönigt oder verklärt und dabei auf hohem ästhetischen und ethischen Niveau universelle Grundfragen stellt.
Kommentar verfassen

Kommentieren