Prinzessin (2006)

Drama | Deutschland 2006 | 83 Minuten

Regie: Birgit Grosskopf

Innenansicht einer Mädchenclique, die aus Langeweile und Frustration zu Gewalt neigt, zum Alkohol greift und einen Kölner Vorort unsicher macht. Die äußerst dichte, mitunter ins Poetische überhöhte Beschreibung einer Kampfzone und ihrer Kombattantinnen, die mit mitunter neorealistischen Mitteln die Befindlichkeit einer neuen Unterschicht beschreibt. Dabei wird der inszenatorisch eindringliche Erstlingsfilm von den ehrlich agierenden Darstellerinnen getragen. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Colonia Media/Label 131/WDR
Regie
Birgit Grosskopf
Buch
Birgit Grosskopf · Daniela Hilchenbach
Kamera
Kolja Raschke
Schnitt
Lawrence Tooley
Darsteller
Irina Potapenko (Katharina) · Henriette Müller (Yvonne) · Desirée Jaeger (Jenny) · Amina Schichterich (Mandy) · Martin Kiefer (Daniel)
Länge
83 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9/Deutsch DD 2.0)
DVD kaufen

Diskussion
Katharina ist Spätaussiedlerin, lebt in einer Hochhaussiedlung bei Köln. Wenn sie nicht in einem Hotel unterbezahlt Zimmer putzt, friert sie lieber mit ihrer Mädchenclique auf der Straße, als sich in der beengten Wohnung den nörgelnden Kommentaren der Eltern auszusetzen. Wenn die Langeweile überhand nimmt, liefert sie sich mit konkurrierenden Mädchengangs fauststarke Kämpfe oder geht willkürlich auf Gleichaltrige in der Bahn los. Ohne ihre deutschen Freundinnen wäre sie „nur eine russische Schlampe“, meint Yvonne, Anführerin der Gruppe. Die ungeliebte Tochter einer alleinerziehenden Mutter ist aggressiv, krankhaft eifersüchtig und gefangen in der Spirale aus Frustration und Gewalt als einziger Quelle von Selbstbestätigung. Weil sie bereits mehrfach polizeilich aufgefallen ist, soll sie für halbes Jahr in den Knast. Im letzten Moment ergreift sie verängstigt die Flucht. Je mehr sich Yvonnes Situation zuspitzt, desto weniger fühlt sich Katharina in der Gruppe geborgen. Wenn Jenny nicht mit sexuellen Abenteuern prahlt, erzählt sie „krasse“ Geschichten von brutalen Unfällen oder verrückten Selbstmördern aus der Nachbarschaft. Mandy raucht, trinkt und gibt sich aufreizend als frühreife Lolita, obwohl sie gerade mal zehn ist. Mehr als verbale und körperliche Übergriffe vermögen die vier Mädchen ihrer trostlosen Umgebung nicht entgegenzusetzen, und wenn die Spannungen zu groß werden, gehen sie auch schon mal aufeinander los, um kurze Zeit später vorm Fernseher mit rassistischen und sexistischen Sprüchen voreinander Eindruck zu schinden. Weder Katharinas autoritäre Familie noch die russische Community, die sich von der Außenwelt abschottet, bieten Halt. Das Gleiche gilt für die nicht ausgesprochene Liebe zu einem Außenseiter, der sich freiwillig zum Einsatz nach Afghanistan meldet. Es dauert eine Weile, bis hinter der rauen Schale ein großer Leidensdruck zum Vorschein kommt, der sich weder mit Drogen oder Partys noch mit den ins Leere laufenden Gewaltexzessen überspielen lässt. Die großartige Irina Potapenko meistert die Entwicklung ihrer Figur von der Schlägerin zur nachdenklichen Aussteigerin mit Bravour, und auch die anderen Darstellerinnen liefern milieunahe Leistungen ab. Dabei kristallisiert sich die unterschwellig erotisch aufgeladene Beziehung zwischen Katharina und Yvonne als dramaturgisches Zentrum heraus – „eine Liebesgeschichte ohne Sex“, wie die Regisseurin sagt, geprägt von bedingungsloser Gefolgschaft, die nur um den Preis der Selbstaufgabe zu haben ist. In diesem fast neorealistischen Porträt von Frauen, die sich an zweifelhaften Macho-Vorbildern orientieren, spielt die westdeutsche Vorstadt die eigentliche Hauptrolle: monotone Betonklötze, austauschbare Einkaufspassagen, Sonnenstudios und U-Bahn-Unterführungen, die wie Kulissen aus einem klaustrophobischen Horrorfilm wirken, spiegeln eindrucksvoll die im Asphalt erstarrten Befindlichkeiten einer neuen Unterschicht, die in einem Spielfilm noch nie so lebensecht brutal agieren durfte. Den Eindruck einer explosiven Atmosphäre verstärkt noch die symbolträchtige Geräuschkulisse, die von verfrüht gezündeten Silvesterknallern dominiert wird und fast an ein Kriegsgebiet erinnert. Die Kamera folgt den Protagonistinnen auf Augenhöhe und verzichtet gänzlich auf modische und möglichst wirkungsmächtige Bilder. „Prinzessin“ ist das Kinodebüt von Birgit Grosskopf; ihr Blick besticht durch die kompromisslose Handlungsführung, die raue bis erstaunlich ökonomische Machart, das sichere Gefühl für dramatische Schauplätze sowie das genaue Einfangen eines Lebensgefühls, das zwischen Pubertätskonflikten, Identitätsproblemen und einer prekären sozialen Situation nur wenig Grund zur Zuversicht bietet. Ein alarmistisches Brennpunkt-Drama möchte der Film dennoch nicht sein, auch wenn sich die finale Katastrophe bestens für eine gesellschaftliche Anklage eignet. Mitunter schleichen sich ironische Seitenhiebe auf schichtenspezifische Besonderheiten ein, etwa wenn Katharina auf einer Studenten-Party wie ein kurioses Versuchsobjekt über ihre russische Seite ausgefragt wird. Es geht unter die Haut, wie ihr Gesicht allmählich versteinert und sich die Wut um die verkrampften Mundwinkel Platz macht, bevor sie lautstark antwortet: „Ich bin Deutsche!“ Da ist man fast schon erleichtert, als Yvonne einen Böller mitten unter die Gäste wirft und der erniedrigenden Inspektion ein Ende bereitet. Es sind starke Szenen wie diese, die den Film über manche Vorhersehbarkeit tragen. Nicht zuletzt die elegische Musik eines barock anmutenden Frauengesangs weist Fluchtwege aus der Kampfzone Vorstadt-Ghetto und überhöht das Geschehen ins Poetische. Da fühlt man sich an Pasolinis mit Bach-Musik strukturiertes Debüt „Accattone“ (fd 12 111) erinnert, die Passionsgeschichte eines Zuhälters im italienischen Subproletariat, der vergeblich einen Neuanfang versucht. Viel Hoffnung auf eine normale Zukunft lässt auch Birgit Grosskopf ihrer „Prinzessin“ nicht. Am Ende sieht man Katharina aus einer leeren S-Bahn ins Nirgendwo aussteigen, und man wünscht ihr, sie möge ankommen. Wenn auch nur bei sich selbst.
Kommentar verfassen

Kommentieren