Alle Katzen sind grau

Drama | Belgien 2014 | 88 Minuten

Regie: Savina Dellicour

Eine 15-Jährige befürchtet, dass der Mann ihrer Mutter nicht ihr leiblicher Vater ist, und engagiert einen Privatdetektiv, ohne zu ahnen, dass der Ermittler sie schon länger beobachtet, weil er glaubt, ihr Vater zu sein. Was auf den ersten Blick wie eine konstruierte Dreiecksgeschichte um Familie und Identität erscheint, entfaltet sich unter der psychologisch feinfühligen Inszenierung zu einem filigranen Drama voller Zwischentöne und Abgründe. Spannend wie im Krimi verweben sich die Perspektiven von Mutter, Tochter und vermeintlichem Vater zu einem vielschichtigen Film über Schein und Sein, getragen von einem perfekt harmonierenden Schauspieler-Trio. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
TOUS LES CHATS SONT GRIS
Produktionsland
Belgien
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Tarantula Belgique
Regie
Savina Dellicour
Buch
Savina Dellicour · Matthieu de Braconier
Kamera
Thomas Buelens
Musik
Wim Coryn
Schnitt
Ewin Ryckaert
Darsteller
Bouli Lanners (Paul) · Anne Coesens (Christine) · Manon Capelle (Dorothy) · Dune de Braconier (Marie-Anne) · Alain Eloy (Michel)
Länge
88 Minuten
Kinostart
31.03.2016
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Komödie
Externe Links
IMDb | TMDB

Psychologisch feinsinniges Mann-Mutter-Tochter-Drama von Savina Dellicour

Diskussion
Es ist Sonntag. Eltern und Großeltern unterhalten sich im Esszimmer. Dorothy und ihre kleine Schwester stöbern auf dem Dachboden in alten Kisten herum. Sie finden Kostüme und verkleiden sich. Als die Mutter ihre Töchter in diesem Aufzug sieht, flippt sie aus. Sie reißt den Mädchen die Kleider vom Leib. Die 15-jährige Dorothy wird nicht schlau aus der Mutter, die nach diesem Ausbruch, wie so oft, unnahbar und abweisend wirkt. Solange sie denken kann, fühlt sich Dorothy als das hässliche Entlein der Familie. Ihre beste Freundin Claire beruhigt sie. Ihre Mutter sei doch ihre Mutter. Natürlich würde sie Dorothy lieben. Doch Dorothys Zweifel bleiben. Paul ist Ende 40 und verdingt sich mehr schlecht als recht als Privatdetektiv. Nach ein paar Jahren in England ist er gerade in seine Heimat Brüssel zurückgekehrt – die Stadt, in der auch seine Tochter lebt. Diese Tochter ist Dorothy, die nichts von ihrem biologischen Vater weiß. Sie ahnt lediglich, dass in ihrer Familie etwas nicht stimmt. Paul beginnt Dorothy aufzulauern, sie aus der Ferne zu beobachten und zu fotografieren. Schon die ersten Szenen des Debütfilms der Belgierin Savina Dellicour strahlen ein Unbehagen aus, das die Protagonisten im weiteren Verlauf mehr und mehr befällt. Die Jugendliche, die in einer statusbewussten bourgeoisen Familie nach der eigenen Identität forscht, muss einen Vorwand nach dem anderen erfinden, um sich ihres Blümchenkleides zu entledigen und im sportlich-punkigen Outfit draußen auf der Straße die Luft zum Atmen zu holen. Der Mann, den die Sehnsucht nach der Tochter ergreift, sieht sich mit seiner verpassten Vaterschaft konfrontiert. Die Mutter, die eine komfortable heile Welt erschaffen hat, versucht krampfhaft, deren Einsturz zu verhindern. Als Paul eines Tages von Dorothy und ihren Freunden beim Fotografieren erwischt wird, beginnt das Arrangement, das sie voneinander fernhält, zu bröckeln. Paul stellt sich als Privatdetektiv vor, und Dorothy entschließt sich, ihm einen besonderen Auftrag zu geben. Er soll für sie ihren biologischen Vater finden. Was wie eine konstruierte Dreiecksgeschichte um Familie und Identität wirken könnte, entfaltet sich unter der Regie von Dellicour zu einem filigranen Drama voller Zwischentöne und Abgründe. Wie im Krimi werden von Anfang an Fährten gelegt, die mal in die Irre, mal auf eine richtige Spur führen. Gewissermaßen als Spiegel der widerstreitenden Gefühle und Gedanken, die im Innern der drei Protagonisten toben, verlaufen deren persönliche Ermittlungen zwar unausweichlich vorwärts, ihre Beziehungen untereinander bleiben jedoch verworren. Sie verkomplizieren sich sogar, je näher man an die Wahrheit rückt. Dies verleiht dem Film nicht nur eine packende Wahrhaftigkeit, sondern ist auch das überzeugende Ergebnis jahrelanger Drehbuch-Feilerei der an der Londoner Film & Television School ausgebildeten Regisseurin und ihres Co-Autors Matthieu de Braconier. Fleisch und Rhythmus verleiht diesem dreifachen „Coming-of-Age“-Film aber erst die Verknüpfung der unterschiedlichen Perspektiven seiner Hauptfiguren, die von einem perfekt harmonierenden Schauspieler-Trio verkörpert werden. Die Newcomerin Manon Capelle bezaubert als Dorothy mit einer treffenden Mischung aus pubertärer Zerbrechlichkeit und trotziger Entschiedenheit. Die gestandene belgische Schauspielerin Anne Coesens gewann für ihre feine Darbietung der verstörten Mutter, hinter deren kontrollierter Fassade alles in Aufruhr ist, sogar den belgischen Filmpreis. Und der für charakterstarke Rollen und Filme berüchtigte Bouli Lanners beweist in der für ihn ungewohnt ernsthaften Rolle des Paul, dass er deutlich mehr als (tragi-)komische Käuze und skurrile Sozialkritik kann. Ein Bouli-Lanners-Touch ist dennoch unverkennbar. Er füllt die Figur des vermeintlichen Losers mit einer für ihn typischen Schlagfertigkeit, Energie und Wärme und macht sie dadurch vielschichtiger, interessanter. Sein Charme eines Altrockers passt auch zum aufgewühlten Soundtrack des Films. Die Musik spinnt indes nicht nur ein Band zwischen Tochter und mutmaßlichem Vater, sondern pointiert zugleich deren Gefühlsausschläge mit kraftvollen Gitarrenriffs. All dies weiß Dellicour, die in ihren preisgekrönten Kurzfilmen und als Regisseurin der britischen Serie „Hollyoaks“ jugendliche Identitätsfindung schon intensiv ausgelotet hat, zu einem aufregend dichten Werk zu orchestrieren. „Alle Katzen sind grau“ ergänzt das aktuelle frankophone belgische Kino, das hierzulande vor allem durch den Sozialrealismus der Dardennes sowie einen Hang zum Skurrilen in Gestalt von Bouli Lanners oder Jaco Van Dormael definiert ist, um eine spannende psychologische Tiefe. Grau kann viele Farben haben.
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