The Painter and the Thief

Dokumentarfilm | Norwegen/USA 2020 | 102 Minuten

Regie: Benjamin Ree

Bei einem Überfall auf eine Galerie in Oslo werden zwei Werke der tschechischen Malerin Barbora Kysilkova gestohlen. Als einer der Täter gefasst wird, nimmt die Künstlerin Kontakt zu ihm auf, um etwas über den Verbleib ihrer Gemälde zu erfahren. Zwischen beiden entsteht ein besonderes Band, doch sie werden auch mit ihren jeweiligen Abgründen konfrontiert. Der außergewöhnlich vielschichtige und fesselnde Dokumentarfilm verfolgt ihre Beziehung hautnah und zeichnet ein intimes Doppelporträt. Durch die Auflösung der Chronologie und raffinierte Perspektivwechsel stellt der Film überdies voreilige Urteile immer wieder in Frage. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
THE PAINTER AND THE THIEF
Produktionsland
Norwegen/USA
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Medieoperatørene/VGTV
Regie
Benjamin Ree
Buch
Benjamin Ree
Kamera
Kristoffer Kumar · Benjamin Ree
Musik
Uno Helmersson
Schnitt
Robert Stengård
Länge
102 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Ein ungewöhnlicher Dokumentarfilm mit wechselnden Perspektiven über die Beziehung zwischen einer Malerin und dem festgenommenen Dieb zweier ihrer Gemälde.

Diskussion

Ein Bild entsteht. Barbora Kysilkova, eine Tschechin, die in Norwegen lebt, malt einen toten Schwan im Schilf. Zusammen mit anderen fotorealistischen Gemälden wird das Bild „Schwanengesang“ in einer Galerie in Oslo ausgestellt. Ein wackliges Handyvideo zeigt die Vernissage. Kysilkova mittendrin, eine strahlende Künstlerin. Von den beiden Exponaten, die kurz darauf von zwei Junkies geklaut werden, ist eines der „Schwanengesang“. Der Diebstahl wurde aufgezeichnet. Eine Überwachungskamera zeigt, wie zwei vermummte Männer die zusammengerollten Leinwände durch die Hintertür der Galerie fortschaffen. Üblicherweise schneiden Kunstdiebe ihre Beute aus den Keilrahmen heraus, erklärt ein Nachrichtensprecher; bei diesem Raub aber wurden 250 Nägel sorgfältig aus dem Rahmenholz gezogen. Die Werke sind verschwunden, die Täter werden gefasst. Einen der beiden, offenbar ein Kunstfreund, will die Bestohlene kennenlernen. Das ist der Ausgangspunkt für einen Dokumentarfilm über eine besondere Freundschaft.

Nach Magnus (2016), einem Porträt des jungen Schachweltmeisters Magnus Carlsen, ist „The Painter and the Thief“ der zweite Langfilm des norwegischen Regisseurs Benjamin Ree. Drei Jahre lang begleitete er seine Protagonisten, Barbora Kysilkova und Bertil Nordland, den Dieb. Beide waren zur Drehzeit etwa Mitte 30. Bertil, der angibt, sich an die Tat und den Verbleib der Bilder nicht erinnern zu können, weil er „high“ war, willigt ein, sich von Kysilkova zeichnen und malen zu lassen.

Die Künstlerin und ihr Modell. In umgekehrter Konstellation – Mann malt Frau – zieht sich dieses Muster durch die Kunst- und dann auch die Filmgeschichte. In Filmen wie Rembrandt (1936, mit Charles Laughton), Vincent van Gogh – Ein Leben in Leidenschaft (1956, mit Kirk Douglas) ist die Künstlerperspektive vorrangig, die weiblichen Modelle sind Randfiguren. Jüngere Filme wie Das Mädchen mit den Perlenohrring (2003, mit Scarlett Johansson als Griet und Colin Firth als Vermeer) holen das Modell aus der Anonymität heraus. Céline Sciammas feministisch-queeres Porträt einer jungen Frau in Flammen (2019) setzt dann sowohl Geschlechterordnungen als auch Blickhierarchien außer Kraft.

Abweichungen von der Chronologie

Der Dokumentarfilm von Rees lässt sich mit den Kostümdramen um berühmte Maler nur bedingt vergleichen. Wie auch die Künstlerin des Films auf dem Kunstmarkt keine herausragende Rolle spielt – bislang, muss man fairerweise sagen. Hochinteressant ist die Struktur, mit der Ree immer wieder von der Chronologie der Geschehnisse abweicht. Der Regisseur schreckt auch nicht vor Auslassungen zurück, um entscheidende Informationen und Entwicklungen erst später nachzuliefern. Er legt damit den fiktionalen Zug der dokumentarischen Form frei, der immer gegeben ist, aber selten reflektiert wird. Klassische Dokumentarfilme erzählen eine „Story“ – die Version des oder der Filmemachenden. „So und nicht anders hat es sich zugetragen“: eine fragwürdige Prämisse, die in der Praxis aber kaum jemand anzweifelt.

Ree umgeht die übliche Zentralperspektive, indem er den Blickwinkel mehrmals wechselt. Im ersten Teil „The Painter“ dominiert die Perspektive Kysilkovas, einer ihr Metier offenbar souverän beherrschenden Künstlerin, deren einziges Problem darin besteht, beklaut worden zu sein. Vor Gericht (die Zeichnungen der Verhandlung stammen von Kysilkova selbst, die beneidenswert gut zeichnet) lernt man mit ihr, die den Angeklagten dort ansprach, Bertil Nordland kennen: bürgerliche Herkunft, Scheidungskind, eine abgerutschte Existenz, ein Junkie, ein Schicksal unter vielen. Kysilkova erkennt, dass Nordland besonders ist. Aber er bleibt – im ersten Akt – der Mann, der die Kontrolle verloren hat, das Opfer, aber auch: der faszinierende Exot. Nordland bricht in Tränen aus, als er das erste Gemälde erblickt, das Kysilkova von ihm gemalt hat. Ein kathartischer Moment, denkt man, und zugleich: Der Mann ist am Ende. Was kann jetzt noch kommen?

Der Körper als Leinwand

Zunächst ereignet sich eine Katastrophe. Nordland klaut ein Auto, rast damit zugedröhnt gegen eine Leitplanke. Totalschaden. Kysilkova besucht den Schwerverletzten auf der Intensivstation. Endstation? Jetzt wird zurückgespult, bis zur Zeit des Kennenlernens. Nun wird Nordlands Perspektive eingenommen. Das Kapitel „Der Dieb“ präsentiert einen Mann mit vielen Eigenschaften, vom Leben gezeichnet. Sein Körper ein tätowiertes Selbstporträt: „Sieben rote Rosen stehen für meine verlorene Kindheit“, sagt Nordland, der auch Theatermasken und Dämonen auf der Haut trägt, auf seiner Leinwand sozusagen.

Nordland rückt hier als scharfsinniges, beobachtendes Subjekt in den Vordergrund. Durch seine Augen lernt man eine andere Kysilkova kennen. Nordland skizziert die Kindheit der Malerin in Prag, erzählt von ihrer früheren Beziehung zu einem gewalttätigen Mann. Dieser Abschnitt zeigt auch andere Werke der Künstlerin, düstere Gemälde, brutale Bildwelten. Man begreift, warum die Malerin sich zu Nordland hingezogen fühlt. Wieder zeigt Ree Nordlands Autounfall. Es folgen Operationen, die Rekonvaleszenz eines Ex-Junkies, der sich mit enormem Energieaufwand ins Leben zurückarbeitet, ein Jahr Gefängnis inklusive Therapie. Vor seinem Absturz ist Nordland eine Menge geglückt, wovon Kysilkova nichts wusste; er hat Tischlerlehrlinge ausgebildet, konnte wie kaum einer traditionelle norwegische Holzhäuser bauen, hat bei einer BMX-Europameisterschaft den dritten Platz belegt. Er war lange clean. „Barbora fragt immer nur nach meinen dunklen Seiten“, sagt Nordland, „das inspiriert sie“.

Aber das wahre Leben ist keine Einbahnstraße. Ein drittes Mal legt Ree den Rückwärtsgang ein. Nordland liegt noch im Krankenhaus, Kysilkova ist fasziniert von seinen Wunden, fühlt sich angesichts seines Handgelenks sogar an die Wundmale Christi erinnert. Man betrachtet die Malerin jetzt vor allem durch die Brille ihres Lebenspartners Øystein, der seiner Freundin finanziell unter die Arme greifen muss und ihre Beziehung zu Nordland mit wachsender Skepsis betrachtet. Kysilkova und Øystein haben sich in Paartherapie begeben, die Künstlerin hadert mit der Therapie, die sie mit ihren Abgründen konfrontiert. „Mir war nie klar, wie kaputt ich bin“, sagt sie. Nordland spricht ihr Mut zu, das Scheitern hat ihn stark gemacht, die Rollen kehren sich um, auch die Erwartungen des Zuschauers kippen. In diesem Segment ist Kysilkova die Süchtige: Ein Mal-Junkie bis zum Kollaps. Und auf ihre Art ebenso eine gierige Diebin, eine, die ihr Modell ausnutzt. Beide nutzen sich aus, beide helfen sich. Könnte das eine Definition von Freundschaft sein?

Abschließende Urteile sind unmöglich

Am Ende weiß man, dass man nichts weiß – dass Persönlichkeiten und Beziehungen fluide sind und abschließende Urteile unmöglich. Benjamin Ree setzt ans Ende seines atemberaubend vielschichtigen, ungeheuer fesselnden Films ein dickes Fragezeichen – mit einem Gemälde, das vermeintliche Gewissheiten über das Paar Kysilkova-Nordland ein letztes Mal ad absurdum führt. Ein anderes Bild, jenen „Schwanengesang“, hat die Malerin übrigens wiedergefunden. In einem Keller irgendwo in Oslo. Auch eine Geschichte aus dem irren Drehbuch des Lebens.

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