Serie | Großbritannien 2022 | (vier Folgen) Minuten

Regie: Stefan Golaszewski

Vierteilige Miniserie über den Alltag eines seit 27 Jahren verheirateten britischen Ehepaars. In feinsinnigen Beobachtungen über eine langjährige Ehe handelt die von zwei herausragenden Darstellern getragene Serie das fragile Gleichgewicht aus Egoismus und Selbstaufgabe aus. Der eigentliche Zauber entfaltet sich oft genau dann, wenn die Figuren schweigen und ihre Körpersprache und Blicke, die Unbeholfenheit ihrer Bewegungen oder das gemeinsame Lachen über Alltägliches sprechend werden. Im Kern geht es dabei immer wieder um das jeweils neue Aushandeln von Respekt und Wertschätzung. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
MARRIAGE
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
All3Media/The Forge/The Money Men
Regie
Stefan Golaszewski
Buch
Stefan Golaszewski
Kamera
Ali Asad
Schnitt
Simon Reglar
Darsteller
Nicola Walker (Emma) · Sean Bean (Ian) · Henry Lloyd-Hughes (Jamie) · James Bolam (Gerry) · Miles Barrow (Mark)
Länge
(vier Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Serie | Tragikomödie

Miniserie über den Alltag eines seit 27 Jahren verheirateten Ehepaars aus Großbritannien, in der das fragile Gleichgewicht aus Egoismus und Selbstaufgabe immer neu austarieren werden muss.

Diskussion

Das Ehepaar Emma und Ian vertreibt sich die Wartezeit an einem spanischen Flughafen im Selbstbedienungscafé. Ian besetzt einen Tisch, Emma holt das Essen. „Die verlangen Geld für das Ketchup“, stellt sie amüsiert und zugleich pikiert fest, als sie das Tablett abstellt. Bis sie zuhause in der Londoner Vorstadt sind, ist aus dieser Alltäglichkeit ein Streit über Kartoffeln geworden; im Café gab es nur Pommes, und Ian hätte gerne gehabt, dass Emma zumindest fragt, ob er trotzdem eine Ofenkartoffel haben kann. Er fühlt sich übergangen; sie findet, dass er übertreibt, und will nicht verstehen, weshalb er sich so über eine Kartoffel echauffiert.

Die vierteilige Miniserie „Marriage“ beginnt dort, wo Familienkomödien aufhören: am Ende eines Sommerurlaubs und mitten im Alltag eines Paares, das seit 27 Jahren verheiratet ist. Emma arbeitet in einer Anwaltskanzlei für einen jüngeren Chef, dem sie gefallen will, obwohl er seine Mitmenschen rücksichtslos ausnutzt. Ian ist auf Jobsuche und wandert tagsüber unruhig durch das verlassene Haus, werkelt im Garten oder geht ins Fitnessstudio. Abends hängen die beiden vor dem Fernseher, besuchen Emmas griesgrämigen Vater oder gehen auf den Friedhof. Dazwischen sieht man sie oft wortlos die Küche aufräumen, den Internetrouter neu starten oder Zähne putzen.

Stärken und Schwächen von Beziehungen

Nach den Sitcoms „Him & Her“ und „Mum“ wagt sich der britische Autor und Regisseur Stefan Golaszewski an ein Drama, doch er bleibt seinem Thema treu: Er untersucht Beziehungen und fandet nach ihren Stärken und Schwachpunkten. Wo er in den Komödien mit zugespitzten Dialogen arbeitete, konzentriert er sich hier aufs genaue Gegenteil. Um die Höflichkeit zu wahren, sprechen die Figuren in „Marriage“ meist in Worthülsen vom Wetter, ihrem Alltag oder dem etwas zu fettigen Essen im Urlaub. Gewichtigere Themen umschiffen sie möglichst weitläufig: Emmas schwieriges Verhältnis zu ihrem Vater, das leere Kinderzimmer im Haus, Ians Gefühl der Nutzlosigkeit, weil er arbeitslos ist.

Überforderung, Trauer, Wut, aber auch tiefes Vertrauen und Fürsorglichkeit kommen in den Momenten dazwischen zum Vorschein, oft genau dann, wenn die Figuren schweigen – in der Körpersprache, den Blicken und der Unbeholfenheit ihrer Bewegungen, im gemeinsamen Lachen über Alltägliches und eigene Schrullen. Das unangenehme Schweigen beim Abendessen mit dem neuen Freund der erwachsenen Tochter muss man auch als Zuschauerin mit Ian und Emma aussitzen und will stellvertretend für die beiden dabei nur mit den Augen rollen.

Humor ist einer der Anker dieser trotz aller Ecken und Kanten eingespielten Beziehung. Wenn Ian im gemeinsamen Reihenhaus unten an der Treppe wartet, bis Emma aus der Toilette im ersten Stock kommt, und sie dann nach ihrer Verdauung fragt, antwortet sie ehrlich und dennoch gewitzt: „Ich dachte, ich hebe ab.“ Ein Furzwitz als Moment tiefster Vertrautheit – Golaszewski gelingt diese Gratwanderung, ohne seine Figuren bloßzustellen.

Gleichgewicht aus Egoismus und Selbstaufgabe

Ein solcherart feinsinniges Porträt braucht Zeit; Golaszewski gibt Sean Bean und Nicola Walker in den Hauptrollen genügend Raum, um die volle Bandbreite der kleinen und großen, der offensichtlichen und unterdrückten Emotionen und Eigenheiten dieses Paares in einer seltenen Direktheit und Wahrhaftigkeit auszubreiten. Den beiden Darstellern gelingt dabei ein Meisterstück der zurückgenommenen Präsenz – die Serie steht und fällt mit dem fragilen Gleichgewicht aus Egoismus und Selbstaufgabe, das Bean & Walker diesem Paar einschreiben.

Ihre jeweiligen Sehnsüchte, Erwartungen und Ängste kollidieren dabei immer wieder. Der Streit um die Ofenkartoffel ist eine von vielen beiläufigen und doch so treffenden Beobachtungen, die Golaszewski ins Zentrum rückt. Natürlich geht es nicht um die Kartoffel, sondern um das Aushandeln von Respekt und Wertschätzung, was ein lebenslanges „work in progress“ bleibt und Ian und Emma auch in allen anderen Interaktionen begleitet.

Öffnung nach außen

Dass die jüngeren Männer im Fitnessstudio ihn „Sir“ nennen, bringt Ian offensichtlich aus dem Konzept. Plötzlich steht er verschämt und unsicher lächelnd zwischen den Hanteln und tritt den Rückzug an. Die Konfrontation mit seinem Alter wirft ihn womöglich gerade in ihrer Indirektheit aus der Bahn. Mehrfach versucht er, ein Gespräch mit der jungen Rezeptionistin des Studios zu führen, die ihn zunächst freundlich abfertigt, später dann immer ihren männlichen Kollegen vorschickt. Ob Ian mehr als nur ein nettes Wort wollte, lässt Golaszewski offen; vermutlich weiß er es selbst nicht so genau. Auch Emma sucht nach Bestätigung und umtänzelt ihren selbstsüchtigen Chef, der sich jedoch heimlich an die Schülerpraktikantin heranmacht.

Auf diese Weise öffnet Golaszewski das Zweier-Kammerspiel immer wieder nach außen. Der Abgleich mit anderen Paaren, mit der Generation ihrer Tochter, mit gesellschaftlichen Diskussionen um Gleichberechtigung, Diversität und strukturelle Diskriminierung bewegt die beiden in ihrem Selbstverständnis gleichermaßen als Individuen wie als Paar und lässt sie in ihrer vermeintlichen Eingefahrenheit immer wieder neue Seiten aneinander entdecken – und all die kleinen Selbstverständlichkeiten neu schätzen lernen.

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