Unsere Welt war eine schöne Lüge

Drama | USA 1994 | 105 Minuten

Regie: Anthony Drazan

Ein Mädchen erlebt, wie sein Vater durch sein verantwortungsloses Verhalten die Existenz der Familie gefährdet. Es lernt, sich trotz der Gefühle für den vom (Selbst-)Betrug lebenden Vater und gegen alle Widerstände einen eigenen Weg in die Zukunft zu erkämpfen. Ohne übermäßige Gefühlsausbrüche zu bemühen, beschreibt der Film (teils in Rückblenden) die schwierige Emanzipation eines Kindes vom Vater. Getragen wird er von einem behutsamen Erzählrhythmus, einem feinen Gespür für die Psychologie der Figuren und von großartigen Darstellern bis in die Nebenrollen. (Videotitel: "Lies and Crimes") - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
IMAGINARY CRIMES
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
Morgan Creek
Regie
Anthony Drazan
Buch
Kristine Johnson · Davia Nelson
Kamera
John J. Campbell
Musik
Stephen Endelman
Schnitt
Elizabeth Kling
Darsteller
Harvey Keitel (Ray Weiler) · Fairuza Balk (Sonya) · Kelly Lynch (Valery) · Vincent D'Onofrio (Mr. Webster) · Elisabeth Moss (Greta)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
Ray ist, was die Amerikaner schnörkekellos einen "Con-Man" nennen - "con" steht für "confidence". Und ebensolches ist es, das Ray sich in seinem manisch-grenzenlosen Selbstvertrauen immer wieder zu erschleichen versteht. Krass ausgedrückt: Ray ist ein unverbesserlicher Schwindler, dem im Leben nichts so richtig gelingen will, dem aber jede Einsicht in sein Versagen abgeht. Und gerade deshalb erliegen andere auch dann noch seinen abstrusen Ideen und finanzieren sie sogar, wenn das Scheitern schon abzusehen ist. Ray: ein tragikomischer Held par excellence.

Der Familie dieses Mannes bleibt das Lachen über seine abenteuerlichen Erfindungen im Halse stecken. Valery, Rays elegant-ätherische Frau, versucht das Unheil zu verdrängen, indem sie sich ins Solitaire-Spiel versenkt. Sonya, die älteste Tochter, gerät jedoch in einen verzweifelten Widerspruch in ihren Gefühlen zum Vater. Nur zu klar erkennt sie, daß er sich in einer Welt des Scheins und des Selbstbetrugs bewegt und daß seine Starrköpfigkeit die Existenz der ganzen Familie aufs Spiel setzt. Schritt für Schritt löst sie sich in einem schmerzvollen Prozeß von dem Menschen, den sie mit am meisten liebt, der aber in seinem engen Horizont keinerlei Blick für ihre Bedürfnisse und Talente hat. Als er seine Tochter mit D.H. Lawrences "Lady Chatterley's Lovers" erwischt, fällt ihm nichts Besseres ein, als ihr das Buch zu entreißen - für ihn ist es nichts anderes als billige "Trash"-Literatur. Nur ein Lehrer an der Highschool entdeckt die literarischen Qualitäten des schriftstellernden Mädchens und gibt ihm die bestärkenden Impulse, die es benötigt.

Auf verschiedenen Zeitebenen stellt der Film Sonyas Entwicklung zu einer selbstbewußten, verantwortungsvollen jungen Frau vor. Der größte Teil der Handlung ist im Jahr 1962 angesiedelt, Sonyas Abschlußjahr an der Highschool. Aus ihren Erinnerungen heraus erlebt man das Leben der Familie, als es noch einigermaßen intakt war. Valery ist inzwischen gestorben, ihr Bild folglich nur noch Erinnerung im Bewußtsein des Mädchens (daher auch die verklärte, seltsam diffuse Erscheinung der Mutter). Da auf Ray kein Verlaß ist, hat Sonya schon längst auch die Verantwortung für ihre jüngere Schwester zu tragen, als sie die Zulassung für das Studium in Berkeley erhält: Ihre eigene Zukunft steht auf dem Spiel. Doch erst als Ray zusammen mit den Mädchen vor einer drohenden Gefängnisstrafe wegen Betrugs flüchten will, wagt Sonya den bitter notwendigen, aber eben auch ungeheuer schweren Bruch mit ihrem Vater.

"Imaginary Crimes", so der bedeutungsreichere Originaltitel, ist ein kleiner, einfühlsamer Film, in dem von der Ausstattung, über das behutsame Erzähltempo bis zu den Schauspielern alles zusammenpaßt. Sogar die Erzählstimme des Mädchens aus dem Off wirkt nicht als erzähltechnische Notlösung, sondern gibt dem Film seine besondere nostalgische, aber nie larmoyante Note. Wie etwa Dustin Hoffman im "Tod eines Handlungsreisenden" geht Harvey Keitel in der

Rolle des Ray förmlich auf, führt ihn mit seinen unverfrorenen Lügengeschichten an den Rand des Lächerlichen, ohne die Figur je zu verraten. Auf diese Weise erlebt man Ray als Zuschauer ganz mit den Augen Sonyas, die von Fairuza Balk ("Gas Food Lodging") präzis und unaffektiert dargestellt wird (die Nebenrollen der Mutter und des Lehrers von Sonya sind glänzend besetzt). Ohne große Gefühlsausbrüche bemühen zu müssen, beeindruckt der Film durch die Umsetzung feiner psychologischer Vorgänge in bewegende Szenen, die Widersprüche gnadenlos offenlegen. In ihnen wird erschreckend deutlich, wie meilenweit die hehren Ideale und Visionen Rays von der Realität seiner Möglichkeiten entfernt sind.
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